Anschlag in Hanau Vater des Attentäters stellt rassistische Anzeigen – und fordert Tatwaffen zurück

Demonstration nach dem Anschlag in Hanau (Archivfoto)
Foto:Andreas Arnold/ dpa
Der Vater des Attentäters von Hanau hat in den vergangenen Monaten zahlreiche Anzeigen zum Teil rassistischen Inhalts gestellt, wie aus Unterlagen hervorgeht, die dem SPIEGEL vorliegen. So fordert der Mann, dass sämtliche Gedenkstätten, die an die Opfer erinnern, entfernt werden, da er darin »Volksverhetzung« sehe. Auch fordert H.-G. Rathjen, 73, die Tatwaffen und Munition seines Sohnes zurück und verlangt, dass dessen Internetseite wieder freigeschaltet wird.
Sein Sohn, Tobias Rathjen, 43, hatte in Hanau vor fast einem Jahr, am Abend des 19. Februar, innerhalb weniger Minuten neun Menschen aus rassistischen Motiven ermordet. Zurück in seinem Elternhaus erschoss er seine Mutter und sich selbst. Der Vater wurde kurz danach in dem Haus festgenommen, war kurz in psychiatrischer Behandlung und wurde verhört. Es fanden sich jedoch keine Anhaltspunkte für eine Verwicklung in die Tat seines Sohnes.
Nun zeigt sich allerdings sehr deutlich, in welchem Ausmaß offenbar auch der Vater des Attentäters rechtsextrem inspirierten Verschwörungstheorien anhängt.
Anzeigen wegen Bespitzelung
Laut den Vernehmungsprotokollen, die dem SPIEGEL vorliegen, behauptet Rathjen senior, sein Sohn sei das Opfer einer weltweit agierenden Geheimdienstorganisation geworden. Agenten hätten seinen Sohn im Wald getötet und seine Leiche im Haus der Familie abgelegt. Währenddessen habe ein als sein Sohn verkleideter Agent die neun Morde begangen.
Auch Tobias Rathjen hatte vor seinem rassistischen Attentat mehrere Anzeigen beim Generalbundesanwalt und der Staatsanwaltschaft Hanau erstattet, in denen er sich über eine ominöse Geheimorganisation beschwerte, die ihn angeblich beobachte. Bereits 2004 hatten Vater und Sohn zudem gemeinsam Anzeigen wegen Bespitzelung durch einen unbekannten Geheimdienst erstattet.
In der Ermittlungsakte gibt es einen Vermerk vom Mai 2020, in dem sich eine Verwandte bei der Hanauer Polizei meldet und sagt, Rathjen senior schreibe wirre E-Mails, sie sei beunruhigt, da »dieses auffällige Verhalten« dem des Tobias Rathjen ähnele.
Antrag auf Schutzhund
Wie bei seinem Sohn fällt bei Rathjen senior nicht nur der Verfolgungswahn auf, sondern auch seine rassistischen Äußerungen: Bereits im März 2017 verlangte er im Bürgerbüro der Stadt Hanau, nur von deutschen Mitarbeitern betreut zu werden. Er fragte, ob man hier in der Ausländerbehörde sei. Zu seiner Frau sagte er laut einem Vermerk in der Akte: »Stell dir mal vor, jetzt arbeiten hier Afrikaner, Polen und Türken!« Zur gleichen Zeit stellte Rathjen einen Antrag auf einen Schutzhund – er wolle sich gegen Ausländer schützen.
Bereits wenige Wochen nach dem Attentat ging beim Generalbundesanwalt die erste Beschwerde von Rathjen senior ein. Er wehrte sich über einen Frankfurter Anwalt gegen die Durchsuchung des Familienhauses.
Am 25. April faxte Rathjen, diesmal offenbar eigenhändig, eine Strafanzeige unter anderem wegen Verletzung der Menschenwürde und Freiheitsberaubung. Das Fax ging an den Generalbundesanwalt und die Staatsanwaltschaft Hanau. Rathjen beschwerte sich darin über den Einsatz des SEK in seinem Haus, seine vorläufige Inhaftierung und die Behandlung im Krankenhaus.
Wirr und durchzogen von rassistischen Bemerkungen
Seine Eingaben lesen sich zum Teil wirr, sind aber vor allem durchzogen von rassistischen und verschwörungsideologischen Sätzen und Bemerkungen, manches scheint wahnhaft. So schreibt er, dass der Name seines Sohnes und seiner ganzen Familie zu Unrecht beschmutzt worden sei. »Zielstrebig wird unter Missachtung der Grundrechte meines Landes nicht nur die gesamte Familie, vielmehr mein Land weiter verletzt. Eine Wiederherstellung wird mehrere Menschenleben erfordern.« Er wies auf »die Fachliteratur des Herrn Thilo Sarrazin« hin und schrieb, es sei davon auszugehen, »dass diesbezüglich mein Land abgeschafft ist«.
Am 15. Mai stellte Rathjen einen Antrag wegen Störung der Totenruhe, weil die Stadt Hanau seinen Sohn auf See bestattet habe, ohne ihn zu fragen. Die Behörden wollten damit verhindern, dass das Grab geschändet oder von Rechten zur Pilgerstätte erkoren wird.
Zwei Tage später teilte Rathjen senior dem Generalbundesanwalt per Fax mit, seine Behörde sei eine »politische Organisation«, die analog zu den Fällen NSU und Walter Lübcke »sämtliche Wahrheiten unterdrücken« wolle. Die Trauerfeier im Congresspark Hanau am 4. März für die getöteten Opfer erfülle den Tatbestand einer Volksverhetzung.
Antrag auf Entfernung von Gedenkstätten
Rathjen verfasste in den Monaten danach mindestens zwölf weitere Beschwerden. Er klagte über seinen Arbeitgeber, einen Gemüsehändler, der ihn entlassen habe wegen seines Namens und sagt, es sei nicht hinzunehmen, »dass seine Rasse als Bestandteil des Deutschen Volkes benachteiligt wird«.
Rathjen behauptete, Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky habe eine Straftat begangen, indem er sagte: »Die Opfer waren keine Fremden.« Er beantragte die »Entfernung sämtlicher in den öffentlichen Raum gestellter Volksverhetzungen, Gedenkstätten, Beflaggung am Tatort«.
Weiterhin beklagte er, dass den Opfern, die er immer wieder »Täter« nennt, die Ehrenplakette der Stadt Hanau verliehen wurde.
In einem weiteren Schreiben warnt er vor zwei Kindern, »offensichtlich männliche Personen, im Alter von etwa sieben bis zehn Jahre, die sein Grundstück betreten hätten«. »Die Familienherkunft dürfte dem Aussehen nach aus dem Nahen Osten zugeordnet werden. Die Hautfarbe, insbesondere bei der jüngeren Person, war stark angebräunt.« In seiner Anzeige sagt er, dass die Kinder T-Shirts mit aufgedruckten Namen trugen. Er nannte den Namen einer Opferfamilie, die in unmittelbarer Nähe zu seinem eigenen Haus wohnen.
Schließlich forderte er, dass die Homepage seines Sohnes, auf der Tobias Rathjen zur Vernichtung ganzer Länder aufgerufen hatte, wieder ins Netz gestellt werde. Tobias Rathjen hatte in einer handschriftlichen Abschiedsnotiz seinen Vater gebeten: »Halte meine Webseite unter allen Umständen aufrecht.«
Keine Anhaltspunkte für strafbares Verhalten
Auf Anfrage, ob Ermittlungen gegen den Vater aufgenommen wurden, zum Beispiel wegen psychischer Beihilfe, teilte die Bundesanwaltschaft mit, dass sie zu keiner Zeit Ermittlungen gegen den Vater von Tobias R. geführt habe. Mit Blick auf das Anschlagsgeschehen hätten sich keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für ein strafbares Verhalten ergeben.
Am 6. Oktober hatte der Generalbundesanwalt der Polizei in Hanau zur Kenntnisnahme und »eventuell weiterer Veranlassung in eigener Zuständigkeit« gemäß der Gefahrenabwehr in Hessen in einem Schreiben mitgeteilt, dass der Vater des Täters am 21. September die Herausgabe der Tatwaffen und Munition seines Sohnes forderte.
Auf die Frage, ob die Behörden Anhaltspunkte sehen, dass von der Person des Vaters eine Gefahr für ihn selbst oder für Dritte ausgehen kann, verweisen der Generalbundesanwalt und die Staatsanwaltschaft Hanau an das Polizeipräsidium Südosthessen, das sich bis zur Veröffentlichung dieses Artikels nicht geäußert hat.