
Anschlag in Hanau Wahn und Tat


Kerzen und Blumen als Zeichen der Trauer in Hanau
Foto:RALPH ORLOWSKI/ REUTERS
Anamnese
Seit einer Woche ist, so hören wir, alles anders. Die Morde von Hanau werden durchweg als Teil einer "Reihe" genannt, zugleich aber auch als singulärer Schrecken. Durch beinahe die ganze Gesellschaft ist ein Moment des Erschreckens, der Anteilnahme, der Empörung gegangen; viele Dutzend Gedenkfeiern, Demonstrationen, Veranstaltungen wurden organisiert und durchgeführt, um die Tötungsverbrechen des Betriebswirts Tobias Rathjen irgendwie ins Alltagsleben, in die Weltdeutung, die soziale Orientierung zu integrieren. Das ist, so scheinbar abgebrüht es sich anhört, "normal"; es ist das, was man als Außenstehender machen kann und muss, und die öffentlichen Inszenierungen von Betroffenheit und Trauer, von Solidarität und Mitgefühl sind ein Teil davon, wie es Aufgabe von Politikern und anderen Personen auf symbolgetränkten Positionen ist, all dies stellvertretend auszusprechen, darzustellen und in sinnstiftende Deutungen umzusetzen.
Das kann nicht jeder, und erst recht nicht jeder gleich gut. Die individuelle Kompetenz zum symbolischen Drama ist aber tatsächlich von sekundärer Bedeutung, obgleich sie der Presse regelmäßig ein paar theaterkritische Anmerkungen wert erscheint. Dabei ist der Höhepunkt der Peinlichkeit doch eigentlich erreicht, wenn man in den Nachrichten von zehn Sendern hintereinander die Meldung anhören muss, es habe sich Minister X "betroffen gezeigt" und Ministerin Y "mit Abscheu reagiert".
Alles normal, alles unvermeidlich, alles geübt, bei uns seltener als anderswo. Eine Besonderheit wurde am Rande registriert: Die getöteten und schwer verletzten Opfer des Täters Rathjen blieben seltsam unkonkret und unpersönlich; sie heißen "Besucher von zwei Shishabars" oder "Personen mit Migrationshintergrund". Bevor sie als Namen oder gar als Personen ins Blickfeld gelangten, durften die Bürger sich vor dem Porträtbild des ermordeten Politikers Walter Lübcke erschüttert zeigen und vor der Namensliste der NSU-Opfer. Diese standen quasi stellvertretend für die Hanauer Hintergrundmigranten, was einerseits eine komplizierte Abstraktion über Ursachenzusammenhänge voraussetzt, andererseits als ziemlich unverfrorene Abwertung angesehen werden könnte. Als der Regierungspräsident Lübcke ermordet wurde, zeigte man nicht tagelang das Foto eines Opfers des Oktoberfestattentats, um die Bevölkerung in Trauerstimmung zu versetzen. Vielleicht, denke ich, hätte Walter Lübcke Einwände dagegen gehabt, als Stellvertreterfoto für die Hanauer Mordopfer herhalten zu müssen, und umgekehrt diese dagegen, fotografisch von Herrn Lübcke symbolisiert zu werden. Wer weiß? Aber wen interessiert's? Der Mensch braucht Bilder, sagen uns die Journalistenschule und das Fernsehen. Notfalls nehmen wir einen Toten aus Kassel, um uns neun Tote aus Hanau vorstellen zu können.
Irritieren könnte auch, dass dem Bedürfnis nach Erschütterung und Anteilnahme offenbar durch die doch sehr abstrakte Beschreibung der Tatopfer als "Migranten" über die ersten Tage des in der Regel besonders großen Entsetzens genügt werden konnte. Auch die Beschreibung der Tatorte als "Shishabars" fand ich interessant; diese Bezeichnung dominiert die Pressemeldungen und öffentlichen Äußerungen bis heute. Man könnte die Örtlichkeiten zur Abwechslung auch irgendwie anders bezeichnen; die deutsche Sprache hält ja eine Vielzahl von Begriffen für Räumlichkeiten des Gastronomiegewerbes bereit, und der deutsche Journalist wechselt eigentlich gern einmal das Substantiv, wenn so viele Synonyme zur Hand sind. Wenn ein durchgedrehter Sylter Ureinwohner in einer winzigen goldverzierten Teestube mehrere Range Rover fahrende Hamburger ermorden würde, fiele den Hundertschaften der erschütterten Livereporter und Kommentar-Analysten im Laufe einer Woche gewiss noch die eine oder andere anschauliche Umschreibung des Etablissements ein. Die "Shishabar" ihrerseits ist eine Örtlichkeit, welche 98 Prozent der Deutschen ungefähr so gut kennen wie eine Synagoge oder eine Schule für Bauchtanz. Wenn man die Mitbürger, die dem Täter von Hanau zum Opfer gefallen sind, also eine Woche lang ausschließlich als Personen mit Migrationshintergrund in Shishabars beschreibt, hat man, so scheint mir, diese Hanauer noch nicht so ganz und gar in die Mitte der Trauernden geholt, wie es die zitternden Stimmen der Gedenkredner hoffen machen wollen.
Differenzialdiagnose
Damit sind wir schon mitten in der Ursachenanalyse, die diesmal besonders leicht von der Hand ging, da just zur selben Zeit das Bundeskabinett den Regierungsentwurf eines Gesetzes zur verstärkten Bekämpfung von Antisemitismus und Hasskriminalität beschlossen hatte. Der Gesetzestitel wankt einmal mehr im Nebel freier Assoziation, denn "Antisemitismus" ist zwar eine idiotische Gesinnung, aber als solcher nicht strafbar, und der Begriff "Hasskriminalität" meint gar nicht definierte Kriminalität aus Hass, sondern versucht, Hass-Äußerungen - oder was man dafür hält - als Kriminalität zu definieren. Straftaten, die "aus Hass" begangen werden, sind durchweg gar nicht Gegenstand des Gesetzentwurfs. Wer aus Hass auf Polizisten Pflastersteine auf 22-jährige Menschen in Uniform wirft, ist kein "Hasskrimineller", sondern im Zweifel ein provozierter Moralist. Wer dagegen seinem Bürgermeister schreibt, dieser sei ein Idiot, begeht ein "Hassverbrechen". Es ist also einmal mehr irgendwie kompliziert und unklar, wo man es auch einfach und klar hätte machen können. Aber alle denken, dass sie schon irgendwie wissen, was gemeint ist; und allein darauf kommt es bei Symbolgesetzen ja an.
Der Vorsitzende des Bundes deutscher Kriminalbeamter, Fiedler, hat in einem Interview des DLF einen rundum wahren Satz gesagt: Die Hanauer Morde und das Hasskriminalitäts-Bekämpfungsgesetz haben erst einmal nichts miteinander zu tun - jedenfalls nicht auf die schlichte, unreflektierte Weise, in der beides sogleich in den Breitopf der Moral geworfen wurde, aus welchem, je nach Tages- und Stundenbedarf, einmal Wohlklang, einmal Abscheu hervorgezogen wird. Vom Anwendungsbereich des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes bis zu Tobias Rathjens Taten ist es ein weiter Weg, und die Geschwindigkeit, mit welcher große Teile der Presse und die Heerscharen der Betroffenen diesen Weg binnen einem Tag zurückgelegt hatten, war erstaunlich.
Fiedlers professionell distanziertem Blickwinkel steht schon seit dem Tattag eine Vielzahl von Scheinanalysen, spekulativen Bewertungen und merkwürdigen Fragen gegenüber. Eine davon ist die Frage, ob Rathjen ein Einzeltäter war oder nicht. Das ist natürlich für die Strafverfolgung und wäre gegebenenfalls auch für die Verhinderung von weiteren Taten sehr wichtig; es ist aber eine Frage in einem strafrechts-dogmatischen Kontext: "Einzeltäter" ist eine Figur innerhalb eines Systems von möglichen Tatkonstellationen. "Mittäter" wäre eine Alternative; "Bande" oder "kriminelle Vereinigung" wären andere. Die heutzutage allgegenwärtige Frage nach "möglichen Netzwerken" hingegen ist sinnlos, wenn und solange nicht gesagt wird, was ein "Netzwerk" denn sein soll, woran man es erkennt und wie sein Vorhandensein aus einem "Einzeltäter" einen Nicht-Einzeltäter macht (und was stattdessen).
Öffentlich diskutiert wird aber eher die Frage, wer "schuld" daran sein könnte, dass Rathjen (angeblich) dachte, was er (mutmaßlich) dachte. Hier schwanken die öffentlichen Meinungen zwischen Spekulationen über "Netzwerke", "Hintermänner", "Mitwisser" und die AfD. Während Spuren oder gar Konturen der ersteren bislang nicht erkennbar sind, hatte sich die letztere mit abwegig dummen Verlautbarungen schon aus der Verantwortung zu stehlen versucht, bevor überhaupt begonnen wurde, nach ihr zu suchen. Für Menschen wie den Politiker Meuthen mag das naheliegend sein; jedenfalls schämen sie sich nicht erkennbar dafür. Das Frankfurter AfD-Mitglied Rahn hat verkündet, der Störeffekt von Shishabars könne "irgendwie zu einer solchen Tat beitragen", Höcke meinte, "der Wahnsinn scheine sich in diesem Land immer weiter auszubreiten", und Pazderski aus Berlin fragt, ob "das" das "von der Merkel-CDU beschworene Deutschland" sei, "in dem wir alle gut und sicher leben". Woanders ist man noch einen Hauch direkter: "Merkel n'a pas mesuré les conséquences de l'ouverture massive des frontières", gab Rachida Dati, Bürgermeisterkandidatin in Paris, zu Protokoll von France Info. All das erzeugt Brechreiz, ist aber intellektuell derart unterirdisch, dass es nur ausgesuchte Dummköpfe begeistern kann.
Carolin Emcke, die unter der Bezeichnung "Philosophin" auftritt, hat auf "Twitter" rasch ein paar Auszüge und Fotos ihres berühmten Buchs "Gegen den Hass" veröffentlicht, für den Fall, dass das Publikum angesichts der Hanauer Mordtaten das Bedürfnis verspürt, einmal zu erfahren, dass Hass etwas total Schlimmes ist, was man auf gar keinen Fall machen soll. Ich finde es immer wieder faszinierend, wenn jemand für jede, also auch für eine solche Gelegenheit stets ein paar ausgelutschte Gemeinplätze im Fundus hat und sie auch sogleich höchstpersönlich zitiert zum Beleg dafür, dass sie wieder mal so was von richtig sind!
Jedenfalls hat Frau Emcke schon am 20. Februar eine superprofunde Analyse des Täters von Hanau erarbeitet: "Wer das Dokument des mutmaßlichen Hanau-Attentäters gelesen hat, sollte es wissen: darin ist - neben und verkoppelt mit Verfolgungswahn - eine rassistische und (!) frauenfeindliche Ideologie zu erkennen. Rassistisch und frauenfeindlich - das darf ruhig beides erwähnt werden." Toll! 2147 Follower hatten bis gestern diesem Tweet ein Herzchen verliehen. Wir wollen jetzt nicht darüber spekulieren, wie viele dieser 2147 Herzensfreunde das angesprochene Dokument gelesen hatten. Ist ja auch nicht so wichtig. Die Analyse, in Rathjens Text könne so etwas wie Rassismus verborgen sein, ist derart brillant, dass sie jedes Herz verdient hat. Und "frauenfeindlich" passt auf jeden Fall. "Seinem Misserfolg bei den Frauen hat der Mörder offenbar ein ganzes Kapitel in seinem wirren 24-Seiten-Manifest gewidmet", schreibt "Emma". Das "offenbar" deutet darauf hin, dass die Eilbedürftigkeit der Produktion auch hier eine vorherige Lektüre des analysierten Textes nicht erlaubte.
Irritierend ist, auch in Emckes Botschaften, die Sache mit dem "Verfolgungswahn". Wir kannten die Philosophin bislang zwar als schon als vielfältig kundig; aber dass sie sich auch die Psychiatrie so weit erschlossen hat, dass sie anhand eines vermutlich von einem "mutmaßlichen" Mörder stammenden, der Öffentlichkeit weithin unbekannten Textes binnen wenigen Stunden und aus der Entfernung eine paranoide Erkrankung diagnostizieren kann, ist beeindruckend! Frau Emcke steht damit allerdings nicht allein: Der "Tagesspiegel" hält sogar schon eine Meta-Diagnose bereit: "Dieser Verfolgungswahn ist typisch für viele Rechtsextremisten". Bis heute habe ich etwa 20 psychiatrische Diagnosen des Zustands des verstorbenen Tobias Rathjen gelesen. Die vorerst letzte kam vom Präsidenten des Bundeskriminalamts: "Eine schwere psychotische Krankheit" habe vorgelegen, teilte er der Presse mit; das hätten "Ermittler" herausgefunden. Aha!
Das internationale Diagnosemanual ICD-10 führt Wahnerkrankungen unter den Diagnoseschlüsseln F-20 bis F-29 auf und beschreibt dort jeweils spezifische Anhaltspunkte für die Differenzialdiagnose. Unter F-22 finden wir die "wahnhafte Störung" mit allerlei Ausblicken in die "Paranoide Störung". Da wir uns nun allerdings wieder im Begriffsdschungel zwischen "Krankheit" und "Störung" aufhalten, verlassen wir das unwegsame Gelände der psychiatrischen Empirie und begeben uns auf sicheres Terrain, also ins Strafrecht, wo sich auch die Mörder gewöhnlich aufhalten. Hier blickt uns sogleich § 20 StGB an: "Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln."
Schwierig! War am Ende Tobias Rathjen ein armer Kranker, in einer Wahnerkrankung gefangen, ohne Schuld und ohne Fähigkeit, seine Taten zu vermeiden? Also ein Mitmensch, der unsere Fürsorge und Hilfe benötigt hätte, den wir in ein Krankenhaus hätten bringen und dort hätten heilen müssen? Was ist dann aber mit all den anderen vom Verfolgungswahn Getriebenen? Was ist mit all den "Hassverbrechern", die der "verstärkten Bekämpfung" harren, den Millionen von rechtsradikal Denkenden, Träumenden, Wähnenden, den Verschwörungsfreunden, Judenbeobachtern, Islamkundigen, den Frauenfreunden und Zeckenfeinden? Lauter "schwer psychotisch Kranke"? Ist Herr Höcke einfach nur krank und bräuchte einmal eine intensive Haloperidol-Kur? Wir erinnern uns: Schon die NS-Diktatur wurde von einigen wenigen Irren mittels teuflisch geschickter Gehirnwäsche an 60 Millionen Gutgläubigen verursacht.
Wir können all dieser Fragen hier nicht klären. Wir haben keine Ahnung. Wir stehen staunend da und betrachten einen Durchmarsch von Begriffen, Analysen, Urteilen und Schlussfolgerungen, die sich ohne jede Sachkenntnis aus sich selbst zeugen und fortzeugen und schon am dritten Tag zu Metaanalysen auftürmen. Wieder einmal ist alles anders und nichts, wie es vorher war. Mal schauen, was morgen ist, wenn alle Demonstrationen vorbei und alle Reden gehalten sind und der Karneval geschafft ist. Und wie lange all die Twitter-Herzchen halten für die Opfer und die Hinterbliebenen von Hanau, die mit ihrer Trauer allein sind.