Harry-Wörz-Prozess "Das ist wie beim Roulette"

Versuchte der Bauzeichner Harry Wörz vor zwölf Jahren, seine Ex-Frau zu töten - oder ist er Opfer einer Polizeiverschwörung? Das Landgericht Mannheim müht sich endlich um Aufklärung - und langsam lösen sich die Indizien gegen den Angeklagten in Luft auf.

Mannheim - Es gibt keine Regel und auch keinen Erfahrungsschatz. Doch wenn ein Fall die Justiz mehr als zehn Jahre lang wieder und wieder plagt, ist zu befürchten, dass man diese Altlast irgendwann loswerden will, koste es, was es wolle. Im Fall Harry Wörz, der neuerlich bereits seit drei Monaten in Mannheim verhandelt wird, ist dies nicht zu befürchten.

Angeklagter Wörz mit seinen Anwälten Ralf Neuhaus (li.) und Hubert Gorka (re.): Eingeengter Blick der Ermittler

Angeklagter Wörz mit seinen Anwälten Ralf Neuhaus (li.) und Hubert Gorka (re.): Eingeengter Blick der Ermittler

Foto: A2411 Norbert Försterling/ dpa

Denn inzwischen scheint dem 1966 geborenen Bauzeichner endlich die Gerechtigkeit zu widerfahren, die ihm seit 1997 vorenthalten wird. Seit dieser Zeit versucht die Karlsruher Staatsanwaltschaft nachzuweisen, dass er in der Nacht vom 28. auf den 29. April 1997 seine von ihm getrennt lebende Ehefrau Andrea heimtückisch zu ermorden versucht habe.

Im Januar 1998 hatte die Staatsanwaltschaft ihr Ziel fast erreicht: Wörz wurde vom Landgericht Karlsruhe wegen versuchten Totschlags zu elf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Im August 1998 wurde das Urteil sogar rechtskräftig, nachdem der Bundesgerichthof die Revision des Urteils zurückgewiesen hatte.

Dann aber ging es erst richtig los. Wörz wurde zwischen den Fronten des juristischen Hickhacks, zwischen Hoffnung und Verzweiflung fast zerrieben. 2001 beantragte er die Wiederaufnahme seines Verfahrens, da einem Zivilgericht aufgefallen war, dass die Karlsruher Strafrichter alles andere als vorurteilsfrei verhandelt hatten.

Wer aber war es dann?

2005 kam es in Mannheim zu einem Freispruch. Anders als die Karlsruher Richter waren ihre Mannheimer Kollegen nicht zweifelsfrei davon überzeugt, dass Wörz diejenige männliche Person war, die das Opfer mit einem Wollschal bis zur Bewusstlosigkeit gedrosselt hatte.

Wer aber war es dann?

Diese Frage ist nach wie vor offen. Die inzwischen von Wörz geschiedene Frau erlitt in jener Nacht so schwere Hirnschäden, dass sie nie wird sagen können, wer der Täter war.

Harry Wörz' Leidensweg aber war nach dem Freispruch noch immer nicht zu Ende. 2006 hob der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs mit dem Vorsitzenden Armin Nack das Urteil auf und verwies das Verfahren an eine andere Strafkammer des Landgerichts Mannheim. Tragender Aufhebungsgrund war, dass die Mannheimer Richter angeblich naheliegende Möglichkeiten der Tatbegehung durch den Angeklagten nicht erörtert hätten. In Karlsruhe wollte man Wörz offenbar um jeden Preis verurteilt wissen.

Seit dem 22. April 2009 steht Wörz nun vor der Dritten Großen Strafkammer des Landgerichts Mannheim. Was deren Vorsitzender Rolf Glenz zusammen mit der Beisitzerin Petra Beck trotz der inzwischen vergangenen Zeit an akribischer Aufklärungsarbeit leistet, wie diese Kammer - erfrischend unbeeindruckt von den deutlich geäußerten Erwartungen der Karlsruher Oberrichter - offen und unvoreingenommen jedes Detail hinterfragt, ist aller Ehren wert.

Jedes Verdachtsmoment, das seinerzeit die Ermittler allein auf Wörz als Täter schließen ließ, wird von der Kammer geprüft, ob es nicht auch andere Erklärungen dafür geben kann. Das Ergebnis ist, fast möchte man sagen, sensationell: Der Prozess ist noch nicht zu Ende; doch bisher spricht buchstäblich nichts dafür, dass Wörz seine Frau töten wollte.

Unrühmliche Ermittlungen

Wie aber ist es dann zu erklären, dass er 1998 in Karlsruhe dafür verurteilt wurde? Wieso wiesen die Karlsruher Richter am Bundesgerichtshof so unverhohlen den Weg zur Rechtskraft einer Verurteilung? Liegt es an der Arroganz der Besserwisser? Oder etwa daran, dass die Karlsruher Polizei in die - höchst unrühmlichen - Ermittlungen des Falls eingebunden war?

Das Besondere am Fall Wörz ist die Rolle der Polizei. Das Opfer war Polizistin in Pforzheim. Der Vater der jungen Frau, zur Tatzeit hielt er sich im Untergeschoss des Hauses auf, in dem sich die Tat ereignete - war Polizist in Pforzheim. Der Liebhaber des Opfers Thomas H. ist Polizist in Pforzheim. Die Pforzheimer Polizei, die, unterstützt von Kollegen aus Karlsruhe, den Fall ermittelte, schien damals ihr Augenmerk allein auf Wörz gerichtet zu haben.

"Sie haben also schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt entschieden, dass Thomas H. nicht als Täter in Frage kommt", konstatiert der Vorsitzende anlässlich der Vernehmung eines der Ermittlungsbeamten. Der Zeuge nickt betreten und sagt dann: "Aus heutiger Sicht sind meine Bewertungen sicher kritikwürdig." Es sehe sicher so aus, als habe man sich "auf Wörz eingeschossen".

Auch andere Polizeizeugen müssen zugeben, schlampig und fehlerhaft ermittelt zu haben. Dass längst nicht alle Spuren verfolgt wurden, vor allem offenbar nicht die, die gegen eine Täterschaft Wörz' sprachen, "sei der Wirtschaftlichkeit geschuldet" gewesen. Man habe eben nicht alles unter die Lupe nehmen können.

Wurde der Tatort verändert?

Dem Gericht fällt auf, dass auf einem der Tatortfotos ein roter Pullover zu sehen ist, auf den Fotos vom Vortag aber nicht. Wurde der Tatort verändert? Wurde etwas hingelegt oder weggenommen, ehe die Ermittlungen beendet waren? Die Polizei, und damit auch der Vater und der Liebhaber des Opfers, gingen damals am Tatort ein und aus. Thomas H. hatte einen solchen Pullover. "Ich habe dem damals keine besondere Bedeutung beigemessen", entschuldigt sich ein Polizeizeuge.

Das Gericht kritisiert den "eingeengten Blick" der Ermittler. "Sie haben in den Ermittlungen etwas angeschoben", hält Richterin Beck einem Polizeizeugen vor, "was Sie dem Angeklagten später zur Last legen!" "Schon möglich", gibt der Zeuge zu.

In dieser Woche hat die Mannheimer Kammer Sachverständige zu Haar- und DNA-Spuren gehört. Denn am Tatort waren Fingerlinge von Gummihandschuhen gefunden worden, die, so die Hypothese der Ermittler, vom Täter getragen wurden. In einem dieser Fingerlinge fand sich eine Mischspur, die Harry Wörz mitverursacht haben könnte. Dem Karlsruher Gericht diente 1998 dieser Umstand als Beleg für Wörz' Täterschaft. Außerdem hatte man in der Wohnung des Angeklagten eine Vielzahl von - zwar anderen, aber immerhin - Gummihandschuhen gefunden.

"Alle Sicherheiten sind mit Vorbehalt zu sehen"

Heute sagt derselbe Sachverständige vor Gericht: "Alle Sicherheiten sind mit Vorbehalt zu sehen." Bei einer Mischspur sei eine Zuordnung nicht eindeutig möglich. Je weiter die Untersuchungsmethoden fortschritten, desto schwieriger werde es mit der Zuordnung. Beisitzerin Beck fragt: "Ich fasse ein Teil an, ein anderer auch. Und dann fasst der einen weiteren Gegenstand an. Können meine Hautspuren dadurch an diesen weiteren Gegenstand gelangen?" Ja, sie können.

Beck: "Wenn man nicht weiß, wie viele Personen an der Mischspur beteiligt sind, kann man dann überhaupt sagen, ob ein bestimmter Mensch die Handschuhe getragen hat?" Dann müsse man kriminalistisch überlegen, antwortet der Sachverständige, wer zur Tatzeit die Gelegenheit hatte, sie zu tragen. "Oder vor der Tat!" fügt Richterin Beck hinzu. "Ja", stimmt der Sachverständige zu. "Das ist wie beim Roulette." Der Vorsitzende: "Ihnen ist also eine Aussage, ob Harry Wörz die Fingerlinge getragen hat, nicht möglich?" "Ich kann es diskutieren, aber nicht endgültig beantworten", lautet die Antwort.

Der Sachverständige hält es hypothetisch für möglich, dass die Fingerlinge am Tatort "drapiert" wurden. "Möglicherweise hat der Täter sie nicht selbst getragen, sondern er nahm Handschuhe, von denen er wusste, dass der Angeklagte sie getragen hat." Denn immerhin wohnte das Ehepaar Wörz ja mal zusammen. "Wenn der Täter weiß, dass man solche Spuren beim Landeskriminalamt analysieren kann", fügt der Sachverständige hinzu.

"Wenn der Täter von einer Beziehungstat ablenken und zum Beispiel einen Einbruch vortäuschen wollte", überlegt die Beisitzerin. "Er muss ja nicht wissen, wer die Handschuhe getragen hat. Er weiß aber, dass er sie nicht getragen hat. Was er vorhatte, wissen wir ja nicht."

1998 dachten die Richter anders. Sie wussten genau, wer der Täter war und was er vorgehabt hatte, oder glaubten es zumindest zu wissen.

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