"Hate Crimes" Hass aufs Anderssein

Obdachlose, Schwule, Andersgläubige: Jedes Jahr gibt es in Deutschland mehr als 100.000 gezielte Übergriffe auf Minderheiten. Experten sehen in den "Hate Crimes" eine Gefahr für die zivilisierte Gesellschaft - und streiten über eine Reform der Strafgesetzgebung.
Von Malte Steinhoff
"Hate Crimes": Die Taten zielen auf Merkmale ab, die das Opfer nicht beeinflussen kann

"Hate Crimes": Die Taten zielen auf Merkmale ab, die das Opfer nicht beeinflussen kann

Foto: Corbis

Hamburg - Der Hamburger Stadtteil St. Georg an einem Freitagabend. Joshua S., 27, schlendert mit seinem Kumpel Neville K., 22, durch die Straßen. Sie feiern, tingeln von Bar zu Bar. In einem Hauseingang sitzen vier Jugendliche. "Ich habe die noch nie vorher gesehen", erinnert sich S. später, "ich kannte die nicht."

Ohne erkennbaren Grund pöbeln die Halbstarken die beiden Freunde an: "Ey, seid ihr schwul, oder was?! Ihr Scheiß-Schwuchteln!" Joshua S. und Neville K. sind Austauschstudenten aus New York beziehungsweise Südafrika, die in Hamburg ein Auslandssemester absolvieren, sie sprechen nur gebrochen Deutsch. Die beiden Männer machen genau das, was einem für solche Situationen geraten wird: Sie bleiben ruhig, gehen weiter, nehmen keinen Blickkontakt zu den Jugendlichen auf.

Es nützt nichts: "Auf einmal trat mir jemand in den Rücken", sagt Joshua S. "Ich hatte keine Ahnung, was los ist. Wir hatten doch überhaupt nichts gemacht, gar nichts." Dann geht alles ganz schnell. Der 27-Jährige stürzt zu Boden. Die vier Angreifer treten ihm immer wieder gegen den Kopf. Erst als Neville gemeinsam mit einem Passanten dazwischengeht, lassen die Schläger von Joshua S. ab und rennen davon.

Der Student trug schwere Prellungen, Schürfwunden und Schnitte an den Händen davon, einen Bluterguss im Auge, bleibende Schäden nicht ausgeschlossen. Joshua S. wurde attackiert, weil die Schläger ihn für schwul hielten. Der Angriff auf den 27-Jährigen war eines von jährlich mehr als 100.000 "Hate Crimes" in Deutschland.

Die Steckbriefe der Täter sind fast immer identisch

Hass als Tatmotiv. Hass auf das Anderssein anderer. Fälle, bei denen Menschen aufgrund ihrer Nationalität, Hautfarbe, Behinderung, Religion, sexuellen Orientierung, ihres sozialen Status oder Aussehens angegriffen, verletzt oder gar getötet werden.

"Opfer von Hasskriminalität können alle 'abgrenzbaren' - insbesondere randständige und gesellschaftlich nicht besonders geschätzte - Gruppen werden", sagt Dieter Rössner, Direktor des Instituts für Kriminalwissenschaften an der Universität Marburg. Die Taten zielen auf Merkmale ab, die das Opfer in der Regel nicht beeinflussen kann. Auslöser für die Attacke ist das Merkmal, nicht der Mensch. Meist kennen sich Angreifer und Opfer noch nicht einmal.

Die Steckbriefe der Täter sind fast immer identisch: nicht älter als 30, männlich, heterosexuell, niedriger Bildungsgrad, problematisches Elternhaus, die mangelnde Fähigkeit, sich in andere Lebenssituationen hineinzudenken, Mitleid zu empfinden. "Die Opfergruppe wird von den Tätern als Konkurrenz um wichtige Ressourcen oder Gefahr für die kulturellen Werte der eigenen Gruppe betrachtet", sagt Rössner.

"Das Recht auf Leben aberkennen"

Der Begriff "Hate Crimes" hat sich in Deutschland nur bedingt etabliert. "Hass" gilt vielen Juristen als ein schwammiger, zu weit gefasster Begriff. Auch eine Eifersuchtstat kann genaugenommen eine Hasstat sein. Treffender ist deshalb der Ausdruck Vorurteilskriminalität.

Dabei handelt es sich keineswegs um ein neues Phänomen. "Übergriffe auf bestimmte Minderheiten sind so alt wie die Menschheit selbst", sagt Rössner. "Man denke beispielsweise an die Christenverfolgung im Alten Rom oder an die NS-Zeit: Das war sogar staatlich verordnete Vorurteilskriminalität." Neu sei, dass diese Verbrechen seit Ende des 20. Jahrhunderts in Politik, Justiz und Wissenschaft als eigene Kategorie von Straftaten behandelt würden.

Vorurteilsdelikte sind sogenannte Botschaftsverbrechen. Den Mitgliedern der Gruppe, auf die sich der Hass projiziert, soll signalisiert werden: Ihr seid anders, ihr seid minderwertig, ich seid in der Minderheit, ihr seid nicht willkommen. Die Opfer werden in Angst versetzt und eingeschüchtert. Brandenburgs Generalstaatsanwalt Erardo C. Rautenberg gibt Vorurteilsdelikten deshalb den alarmierenden Beinamen "Taten mit Vernichtungstendenz". Die Täter würden ihren Opfern "schlichtweg das Recht auf Leben aberkennen".

Dieter Rössner sieht in Vorurteilsdelikten deshalb sogar eine Gefahr für die Gesellschaft: "Das besondere Risiko liegt in dem Angriff auf die Grundlagen des friedlichen Zusammenlebens in der zivilisierten Gesellschaft: die Unantastbarkeit der Menschenwürde als Gemeinschaftswert."

Jährlich mehr als 100.000 Vorurteilsdelikte in Deutschland

Die Zahl der Vorurteilsdelikte in Deutschland lässt sich nur schwer beziffern. "Hate Crimes" werden in Deutschland - im Vergleich zu einigen anderen westlichen Ländern - nicht explizit als solche erfasst, sondern fallen größtenteils unter den Begriff "politisch motivierte Kriminalität".

"Wir schätzen, dass es in Deutschland jährlich etwa 2000 bis 3000 Vorurteilsdelikte mit körperlicher Gewalt gibt", sagt Rössner. "Knapp ein Drittel davon hat einen rechtsradikalen Hintergrund. Hinzu kommen rund 20.000 Taten, bei denen die Opfer auf anderem Wege angegriffen werden. Beispielsweise durch Sachbeschädigungen, Beleidigungen oder Drohungen." Das sind aber lediglich die zur Anzeige gebrachten und damit offiziell registrierten Fälle. Rössner: "Es gibt eine Dunkelziffer, die ungefähr fünfmal so hoch ist."

Der prominenteste "Hate Crime"-Fall der vergangenen Monate ist der Mord an der Ägypterin Marwa al-Schirbini. Die junge Mutter war im Juli von Alex W., 28, im Dresdner Landgericht mit 16 Messerstichen regelrecht niedergemetzelt worden. Die Staatsanwaltschaft warf W. Mord aus "blankem Hass" vor. Nach Auffassung des Gerichts habe er sein Opfer als "minderwertig" angesehen. Der Angeklagte selbst sagte, er sei genervt von "zu viel Multikultischeiß" in Deutschland. Muslime seien für ihn keine Menschen, sie hätten nicht das Recht, hier zu leben. Es solle ihnen verboten werden, Kinder zu bekommen. Das Urteil: lebenslange Haft.

"Hate Crime"-Gesetze auch in Deutschland?

"Hate Crime"-Gesetze als Reaktion auf den Rassenhass

Die Theorie der "Hate Crimes" stammt aus den USA. Ende der sechziger Jahre nehmen die Übergriffe - insbesondere auf Schwarze - in den Vereinigten Staaten ein derart großes Ausmaß an, dass sich der Staat gezwungen sieht, die Strafgesetzgebung zu überarbeiten. 1969 wird das "Federal Hate Crimes Law" erlassen. Es umfasst Verbrechen, die wegen der Rasse, Religion oder Herkunft des Opfers begangen wurden. Das Gesetz macht es möglich, in diesen Fällen schärfere Strafen zu verhängen: Kann ein "Hate Crime"-Hintergrund nachgewiesen werden, wird das Strafmaß in der Regel verdoppelt. Landesweit zählt das FBI jährlich knapp 8000 zur Anzeige gebrachte Delikte dieser Art.

Ende der neunziger Jahre entbrennt in den USA eine Debatte über eine Ausweitung des Gesetzes. Anlass sind zwei Verbrechen im Jahr 1998: Im Bundesstaat Texas wird der 49-jährige behinderte Afroamerikaner James Byrd entführt und von seinen Peinigern hinter einem Auto zu Tode geschleift. Wenige Monate später wird der homosexuelle Student Matthew Shepard, 21, in Wyoming von zwei Gleichaltrigen zu Tode geprügelt und wie eine Vogelscheuche an den Zaun einer Ranch gebunden.

Die anfangs sachlich geführte Diskussion entwickelt sich zu einem erbitterten Kampf zwischen Bürgerrechtsorganisationen und Demokraten auf der einen, Konservativen und Republikanern auf der anderen Seite. Die einen sind für, die anderen strikt gegen eine Ausweitung des Gesetzes. Zwar wird das "Federal Hate Crimes Law" an einigen Stellen immer wieder überarbeitet und ergänzt, doch das Bestreben, auch homosexuellenfeindliche Straftaten aufzunehmen, scheitert regelmäßig am Widerstand konservativer Parlamentarier.

Es dauert elf Jahre, bis sich das Lager der Novellierungsbefürworter endgültig durchsetzen kann: Im Oktober dieses Jahres unterzeichnet Präsident Barack Obama eine Erweiterung des "Hate Crime"-Gesetzes. Demnach fallen nun auch alle Straftaten unter diesen Begriff, die aufgrund der sexuellen Orientierung, des Geschlechts oder einer Behinderung des Opfers begangen werden. Obama sagt damals: "Dieses Gesetz wird unsere Mitbürger davor schützen, dass ihnen Gewalt dafür angetan wird, wie sie aussehen, wen sie lieben, wie sie beten oder wer sie sind."

"Hate Crime"-Gesetze auch in Deutschland?

"Die Welle dieser Gesetze schwappt gerade von den USA über Großbritannien nach Europa", sagt Marc Coester vom Landespräventionsrat Niedersachsen. Im Vereinigten Königreich werden "Hate Crimes" seit 2005 als gesonderte Straftaten verfolgt. Mittlerweile hat rund ein Drittel aller OSZE-Staaten Gesetze, die "Hate Crimes" explizit berücksichtigen. Coester: "Die EU-Kommission und die OSZE empfehlen ihren Mitgliedstaaten, diese Gesetze in die nationalen Strafgesetzgebungen aufzunehmen."

Zur Jahrtausendwende wurde auch in Deutschland der Ruf laut, Vorurteilsdelikte gesondert in das Strafgesetzbuch aufzunehmen. Vor allem Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt machten sich im Bundesrat für eine Gesetzesänderung stark. Demnach sollten bei Vorurteilsdelikten auch Freiheits- statt Geldstrafen verhängt und Bewährung nur in Ausnahmefällen gewährt werden. Bislang blieben die Initiativen der Länder allerdings ohne Erfolg.

Ein Umstand, der bei Wissenschaftlern und Juristen unterschiedliche Reaktionen auslöst. "Insbesondere beim Strafrecht haben wir es seitens der Politik oft mit symbolischer Gesetzgebung zu tun", sagt der Kriminologe Dieter Rössner. "In nicht wenigen Fällen könnte man es auch blinden Aktionismus nennen." Kaum gebe es eine medienwirksame Gewalttat, würden Rufe nach härteren Strafen laut.

Andere, darunter Brandenburgs Generalstaatsanwalt Erardo Rautenberg, halten das Scheitern der Reformversuche für einen fatalen Fehler: "Es geht darum, deutlich zu machen, dass rassistische und fremdenfeindliche Straftaten in unserer Werteordnung auf der untersten Stufe stehen", sagt Rautenberg. "Es soll eine Signalwirkung an Täter und Opfer ausgehen. Mir ist es schleierhaft, wie man eine entsprechende Überarbeitung des Strafgesetzbuches als überflüssig erachten kann."

Prävention und "kurze Prozesse"

"Austariertes Strafrecht"

Der Großteil der Praktiker sieht aber offenbar keinen Handlungsbedarf: Der Jurist Karsten Krupna fragte in seiner Doktorarbeit 194 Richter und Staatsanwälte in Hessen und Thüringen, ob sie es befürworten würden, den Begriff der Vorurteilskriminalität ins Strafgesetzbuch aufzunehmen. Das klare Votum: Knapp 80 Prozent der Juristen lehnten eine Novellierung ab. "Die Mehrheit bezeichnet die vorhandenen Gesetze als völlig ausreichend und sieht sich in der Lage, angemessen mit entsprechenden Straftaten umzugehen", sagt Krupna.

Das findet auch der Hamburger Oberstaatsanwalt Wilhelm Möllers: "Unser Strafrecht ist derart austariert, dass auch sogenannte 'Hate Crimes' berücksichtigt und mit entsprechend härteren Strafen gewürdigt werden - ohne dass der Begriff explizit dort auftaucht." Bei der Strafzumessung werde auch "die Gesinnung, die aus der Tat spricht", berücksichtigt.

Auch im Fall "Marwa" beeinflusste die Fremdenfeindlichkeit des Täters das Urteil: Alex W. wurde wegen Mordes an Marwa al-Schirbini verurteilt, weil die Kammer die Mordmerkmale der Heimtücke und der niederen Beweggründe, nämlich Ausländerhass, erfüllt sah.

Ob beim Angriff auf Joshua S. die Gesinnung der Täter berücksichtigt werden wird, ist unklar. Das Verfahren ist - auch zwei Monate nach der Tat - noch offen. Bislang sprächen lediglich die Opfer von einem schwulenfeindlichen Angriff, heißt es seitens der Polizei. Erst einer der vier mutmaßlichen Schläger konnte bisher gefasst werden. Es handelt sich um Adem M., 19 Jahre alt, Schulabbrecher, polizeibekannt. Gegen ihn wird wegen gefährlicher Körperverletzung ermittelt. M. behauptet, allein zugeschlagen zu haben.

Prävention und "kurze Prozesse"

Reformgegner warnen davor, das Strafrecht "beliebig" bestimmten Verbrechenskategorien anzupassen. "Im Kern geht es doch gerade um das strafrechtliche Grundprinzip, dass ein verletzter Mensch ohne Blick auf seine besonderen Eigenschaften gleiche Achtung und gleichen Schutz verdient", sagt der Kriminologe Rössner. "Daran sollte man nicht rütteln und die Opfer entsprechend differenzieren." Das Prinzip der Vorurteilskriminalität ginge deshalb "in die ganz falsche Richtung".

Viele Experten fordern deshalb - neben einer wirksamen Prävention - Straftaten mit "Hate Crime"-Hintergrund schneller vor Gericht zu bringen. "Gerade bei jungen Tätern ist es wichtig, dass die Strafe auf dem Fuß folgt. Nur so können die meisten von ihnen Tat und Wirkung miteinander in Verbindung bringen", sagt Marc Coester vom Landespräventionsrat Niedersachsen. Zudem habe der sprichwörtliche "kurze Prozess" eine positive Außenwirkung: Seht her, wer ein solches Verbrechen begeht, wird schnell und unbürokratisch zur Rechenschaft gezogen!

Den Einzug des Straftatbestands "Hate Crime" in die deutsche Strafgesetzgebung wird das dennoch nicht aufhalten, glaubt Coester. "Ich vermute, dass wir in Deutschland in fünf bis zehn Jahren ebenfalls derartige Gesetze haben werden. Die sogenannten Opfergruppen werden ihre Positionen immer lauter vertreten und mehr Schutz durch den Gesetzgeber fordern. Ein nachvollziehbares Engagement."

Joshua S. lebt jeden Tag mit der Erinnerung an die Attacke der Schläger. "Nach Einbruch der Dunkelheit gehe ich nicht mehr allein auf die Straße. Ich habe Angst, dass so etwas wieder passiert", sagt er. "Es ist furchtbar, die Erfahrung machen zu müssen, dass man sich nicht schützen kann."

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