Kritik an Kanzleramtsminister Braun "Verfassungsrechtliche Problematik vollkommen verkannt"

Kanzleramtminister Helge Braun nannte Urteile gegen Corona-Maßnahmen eine "Herausforderung" - der Richterbund reagierte umgehend. Jurist Ulrich Battis beklagt ein fehlendes Verständnis des Verfassungsrechts.
Polizeistreife in Mannheim (Symbolbild): "Da fehlt etwas"

Polizeistreife in Mannheim (Symbolbild): "Da fehlt etwas"

Foto: Ralph Peters/ imago images/Ralph Peters

Kanzleramtsminister Helge Braun wählte seine Worte vorsichtig, doch Wucht entfalteten sie trotzdem. So sehr, dass der Deutsche Richterbund noch am Tag der Veröffentlichung reagierte.

Doch der Reihe nach: CDU-Mann Braun wurde von der "Welt am Sonntag" zu Gerichtsurteilen befragt, die Corona-Regelungen kippen. Der Kanzleramtsminister sagte, er verstehe und akzeptiere jedes einzelne Urteil. "Aber ich empfinde es schon als Herausforderung, wenn sich Gerichte auf den Gleichheitsgrundsatz berufen, um einzelne unserer Maßnahmen aufzuheben oder zu modifizieren."

Es sei rechtlich unproblematisch gewesen, "aus Infektionsschutzgründen alles zu schließen". Aber beim schrittweisen Öffnen könne es nicht immer eine absolute Gleichberechtigung aller gesellschaftlichen Bereiche geben, "weil unser Vorgehen eben schrittweise ist."

Die Vorsitzenden des Richterbundes veröffentlichten noch am Sonntag eine Erklärung dazu. Die Korrektur "unverhältnismäßiger Maßnahmen" durch die Gerichte lasse erkennen, dass der Rechtsstaat noch funktioniere, teilten Barbara Stockinger und Joachim Lüblinghoff mit. Die Verfassungs- und Verwaltungsgerichte seien ein "wirksames Korrektiv". Am Ende der Mitteilung heißt es: "Der Deutsche Richterbund geht davon aus, dass die vom Kanzleramtschef geäußerte Kritik nicht von der Bundeskanzlerin geteilt wird."

Die Gerichte sind für die Regierenden zunehmend unbequem, das zeigen auch Brauns Aussagen (lesen Sie hier  mehr darüber). Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof erklärte das Verkaufsverbot für Geschäfte mit mehr als 800 Quadratmetern für verfassungswidrig. Der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes kippte teilweise die rigiden Ausgangsbeschränkungen, die dort galten. Das Bundesverfassungsgericht gab einem Antrag eines muslimischen Vereins aus Niedersachsen statt, der nicht auf Freitagsgebete im Ramadan verzichten wollte.

Ulrich Battis ist emeritierter Jura-Professor, lehrte unter anderem in Berlin und an der Fernuniversität Hagen. "Im Grunde sagt Braun: Das Schließen ist einfach, beim Öffnen aber müssen wir abwägen", sagt der Verfassungsrechtler. "Das zeigt, dass er die verfassungsrechtliche Problematik vollkommen verkennt."

Auch vorher sei eine Abwägung notwendig gewesen, da es sich um schwerwiegende Grundrechtseingriffe gehandelt habe. "Der Eingriff in das Grundrecht bedarf besonders sorgfältiger Abwägung", sagt Battis. "Braun hingegen argumentiert so, als bedürfe nur die Wiederherstellung des verfassungsgemäßen Zustandes besonderer Abwägung. Umgekehrt ist es richtig."

"Da fehlt etwas"

Christoph Möllers sieht das Problem des Regierungshandelns an anderer Stelle. "Wenn die Verwaltung etwas einschränkt, bekommt man üblicherweise eine spezifische Begründung. Das ist gerade anders: Wir sehen wenig formalisierte Begründungen", sagt der Berliner Professor und Verfassungsrechtler.

Corona-Rechtsverordnungen seien ein Zwischenbereich. "Wir kennen solche Arten von Entscheidungen nicht", sagt Möllers. Normalerweise würden Gesetze durch Verordnungen konkretisiert. Die Corona-Rechtsverordnungen der Länder seien zwar streng genommen nicht begründungsbedürftig. "Doch Rechtsverordnungen regeln normalerweise Dinge wie allgemeine Grenzwerte und nicht, dass jemand seinen Laden schließen muss."

Für jede abgelehnte Baugenehmigung, für jeden erfolglosen Asylantrag gebe es seitenlange Begründungen. Bei den Corona-Rechtsverordnungen der Länder sei das anders. "Da gibt es eigentlich nur noch Pressekonferenzen", sagt Möllers. "Entweder der Gesetzgeber debattiert oder die Verwaltung begründet. Gerade haben wir beides nicht. Da fehlt etwas."

Das mache es auch den Gerichten schwer. Die haben seit der Coronakrise ohnehin viel zu tun. Eine Umfrage des SPIEGEL ergab: Bei allen deutschen Verwaltungsgerichten sind insgesamt knapp 900 Eilanträge gegen Corona-Bestimmungen eingegangen. Erledigt wurden davon mehr als 550 Fälle. In etwa zehn Prozent der Fälle gaben die Gerichte Antragstellern ganz oder teilweise recht. Die Regierung muss sich wohl auf weitere unbequeme Urteile einstellen.

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