Kronzeuge gegen Hells Angels Die unglaubliche Geschichte

Er ist der derzeit wichtigste Kronzeuge gegen die Hells Angels in Deutschland: Steffen R. sorgte mit seinen Aussagen für Dutzende Ermittlungsverfahren und Großrazzien der Polizei. Doch nun sind Unterlagen aufgetaucht, die an der Glaubwürdigkeit des Kriminellen zweifeln lassen.
Verdächtige Lagerhalle bei Kiel: Keine Leiche, nirgends

Verdächtige Lagerhalle bei Kiel: Keine Leiche, nirgends

Foto: dapd

Kiel - Steffen R. ist ein kleiner, massiger Mann, den frühere Weggefährten wegen seiner Leibesfülle "Kugelblitz" nennen. Bis die Polizei ihn im Mai 2011 verhaftete, war der Ex-Boxer Gründer und Präsident der Legion 81 in Kiel, eines Unterstützerclubs der Hells Angels, zuständig für Grobheiten aller Art und die Drecksarbeit im Milieu. Das war genau die Art Gelderwerb, die dem gelernten Koch und mehrfach vorbestraften Mann aus Sachsen-Anhalt zu liegen schien.

Schließlich aber sah sich R. einem Ermittlungsverfahren gegenüber, in dem es unter anderem um Zuhälterei, räuberische Erpressung, schweren Menschenhandel, gefährliche Körperverletzung und Bedrohung ging. Acht Monate lang saß Steffen R. in Untersuchungshaft und schwieg, doch Mitte Februar 2012 entschied sich der damals 40-Jährige, die Behörden mit Informationen über seine Rocker-Freunde zu versorgen.

Also erzählte Steffen R. von illegalen Geschäften, von Prostitution, Drogen, Schutzgeld und Mordaufträgen. Es folgte kurz vor Pfingsten 2012 ein massiver Schlag der Polizei gegen die Hells Angels, ein Beamter sprach später von einem historischen Einsatz. 1200 Beamte rückten zur Großrazzia in norddeutsche Gaststätten, Bordelle und Wohnungen aus, die Staatsanwaltschaft leitete rund 200 Ermittlungsverfahren gegen 69 Beschuldigte ein. Bei dem Hells-Angels-Fürsten Frank Hanebuth in Hannover flog sogar die Elitetruppe GSG 9 ein, erschoss einen Hund und stürmte die Villa.

Neue Dokumente aufgetaucht

Der Grund: Steffen R. hatte Hanebuth beschuldigt, er habe den seit Jahren vermissten Kieler Türsteher Tekin B. umbringen lassen. Noch vor Gericht wiederholte der Aussteiger diese Geschichte, die ihm angeblich mehrere Hells Angels auf einer Weihnachtsfeier erzählt hatten. Götz von Fromberg, Hanebuths Rechtsanwalt, wies die Vorwürfe zurück und mahnte: "Dieser Belastungszeuge sagt die Unwahrheit und muss genau unter die Lupe genommen werden."

Tatsächlich sind nun Dokumente aufgetaucht, die an der Glaubwürdigkeit des Kronzeugen zweifeln lassen. So hatte das Landeskriminalamt (LKA) Sachsen-Anhalt bereits am 1. September 2003 in einem Rundschreiben ("VS - Nur für den Dienstgebrauch") alle Landeskriminalämter, das Bundeskriminalamt, das Zollkriminalamt und den Bundesgrenzschutz ausdrücklich "vor einer Zusammenarbeit" mit Steffen R. gewarnt: Er "hat sich mehrfach als unzuverlässig erwiesen", schrieb ein Erster Kriminalhauptkommissar seinen Kollegen in der Republik, "und sich Dritten offenbart. Es wurde festgestellt, dass er sich Informationen über die Vorgehensweisen der Polizei beschaffen wollte, um selber gefahrlos Straftaten begehen zu können."

Diese Warnung allerdings hielt die schleswig-holsteinischen Ermittler acht Jahre später nicht davon ab, sich stärker auf R. zu verlassen als jede Behörde zuvor.

Hinweise auf "Nationalsozialistischen Untergrund"

Dabei versuchte Steffen R., sich wenig später auch an anderer Stelle beliebt zu machen. Beim Bundeskriminalamt (BKA) wollte der Kriminelle die noch unglaublichere Geschichte an den Mann bringen, dass die Kieler Hells Angels dem Terrortrio des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) etwa ein Dutzend Schusswaffen verkauft hätten, unter anderem ein Sturmgewehr vom Typ AK 47. Sein Kumpel Adrian M. von der Legion 81 habe Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe aus diesem Grund 2009 am Timmendorfer Strand beherbergt, berichtete R.

Zudem wusste der Informant angeblich von einer Unterstützungsparty für das Trio: ausgerichtet 2002 in der ehemaligen Trommelfabrik in Weißenfels unter anderem vom Thüringer LKA und dem dortigen Verfassungsschutz. Zschäpe habe vor laufenden Kameras der Behörden wüste Hetzreden geschwungen: "Der bewaffnete Kampf gegen den Staat und die Ausländer muss weitergehen."

Das BKA prüfte die Behauptungen und stellte im Juli 2012 eindeutig fest, dass R. "die Sachverhalte frei erfunden hat beziehungsweise reale Begebenheiten mit erfundenen Details vermengt hat, um sie interessanter zu gestalten". So heißt es in dem Vermerk, der auch nach Kiel versandt wurde. Es könne Steffen R. dabei um finanzielle Vorteile gegangen sein, mutmaßte der Kriminalbeamte, oder um die Aufnahme in das Zeugenschutzprogramm des BKA.

Letztlich kam Steffen R. dann wegen seines vermeintlichen Wissens über kriminelle Rocker im Zeugenschutzprogramm des Kieler Landeskriminalamts unter - und strafrechtlich zudem ziemlich glimpflich davon. Wegen Bedrohung, gefährlicher Körperverletzung und schweren Menschenhandels verurteilte ihn das Landgericht Kiel gerade einmal zu gut vier Jahren Haft.

Kein Kommentar vom LKA

Sind die norddeutschen Ermittler also auf einen Aufschneider hereingefallen? Das LKA Schleswig-Holstein wollte sich auf Anfrage nicht zu den Vorgängen äußern. Die Staatsanwaltschaft Kiel verwies darauf, dass Steffen R.s Angaben bereits zu mehreren Anklagen geführt hätten, die demnächst verhandelt würden. Im Fall des angeblichen Auftragsmords an Tekin B. liefen die Ermittlungen noch, hieß es.

Laut Steffen R. hatten mehrere Rocker ihr Opfer B. im April 2010 in eine Falle gelockt, in einer Werkstatt stundenlang gequält und gedemütigt, bis ihm einer ins Gesicht oder in den Hals geschossen habe. Zunächst sei der Körper des Toten in einem Müllcontainer neben einer Lagerhalle in Altenholz bei Kiel versteckt worden. Als die Hells Angels dann das Fundament einer neuen Halle gegossen hätten, sei die Leiche dort einbetoniert worden, berichtete Kronzeuge R.

Das Problem nur ist: An dem beschrieben Ort gab es keine Leiche. Wochenlang drehten Kriminaltechniker aus Bund und Land jeden Zentimeter der besagten Lagerhalle um, meißelten den Beton auf, setzten Hunde ein, fuhren Spezialgerät auf, doch sie fanden nichts. Der Besitzer der Lagerhalle fordert inzwischen Hunderttausende Euro Schadenersatz vom Land.

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