
Fotos aus Zentralamerika Wo ein Mord 100 Dollar kostet

Javier Arcenillas, 42, spanischer Fotograf, ist spezialisiert auf Konfliktregionen. Er war Kriegsreporter im Irak, in Jugoslawien und Afghanistan. Seit einigen Jahren widmet er seine Arbeit Zentralamerika, mehrere Monate im Jahr verbringt er in Guatemala, Honduras und El Salvador. Für seine Fotos von dort wurde er bei den Getty Images Editorial Grants ausgezeichnet.
Wenn Javier Arcenillas über seine Arbeit in Zentralamerika spricht, stockt dem Zuhörer binnen Minuten der Atem. Der Fotograf erzählt in rasendem Tempo von ausgelöschten Familien, von exekutierten Spitzeln, von kommunalen Krankenhäusern, die Lazaretten gleichen, und von Sicarios, den Killern in den Jugendbanden.
Aber vor allem erzählt Arcenillas von Angst, Hoffnungslosigkeit und Schmerz. Von Menschen, die nur noch eines wollen: Der Hölle entfliehen, wenn sie denn können. Ihr Leid will der Fotojournalist festhalten: "Ich will Empathie schaffen mit denen, die nicht zu Wort kommen, nicht reden können oder denen niemand zuhören will."
Vor allem El Salvador und Honduras stecken fest im Griff der Jugendbanden, Maras genannt.
Die vergangenen Jahre galt Honduras als Land mit der höchsten Tötungsrate weltweit. 2011 erreichte es einen traurigen Spitzenwert: Rund 92 Morde pro 100.000 Einwohner wurden laut dem Uno-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) registriert. Bald könnte El Salvador das noch übertreffen: In den ersten neun Monaten des Jahres starben in dem Land von der Größe Hessens laut Nationalpolizei 4930 Menschen eines gewaltsamen Todes - wenn das so weiter geht, ist mit 100 Toten pro 100.000 Einwohnern zu rechnen. Zum Vergleich: In Deutschland liegt die Mordrate bei nicht mal 1,0 pro 100.000 Einwohner.
Die Killerkommandos laden ihn ein
Die Gangs kämpfen gegeneinander und gegen die Staatsgewalt - und sie terrorisieren die Bevölkerung. Wenn der morgendliche Gang zum Bäcker oder der abendliche Weg in die Kneipe Lebensgefahr bedeutet, wenn man Schutzgeld bezahlen muss, dann wird das Leben zur Hölle, sagt Arcenillas. "Die Menschen leben in permanenter Panik."
Gewalt, Korruption, sozialer Zerfall, fehlende Chancen für die Jugend, ein unfähiger oder abwesender Staat seien der "Krebs dieser Region", sagt der Spanier, der seit Jahren regelmäßig El Salvador, Honduras und Guatemala bereist. Eine Region, der er sich durch die gemeinsamen kulturellen Wurzeln besonders verbunden fühlt. "Die Hälfte meiner Bekannten wird entweder erpresst oder mit dem Tode bedroht", so Arcenillas. Da sei doch verständlich, dass sich jedes Jahr Hunderttausende auf den Weg machen, um woanders ein besseres Leben zu suchen.
Der Verbal-Galopp durch seine Erfahrungen ist für den Fotografen eine Form der Katharsis. Arcenillas verarbeitet so seine Erlebnisse, die auch für einen erfahrenen Reporter grenzwertig sind.
Er fotografiert Menschen, die andere für 100 Dollar oder einen schiefen Blick töten, er hält das Leid derjenigen fest, die gerade verletzt wurden, einen Menschen oder die ganze Familie verloren haben. Arcenillas wird regelmäßig von der Polizei festgenommen, von den Chefs der Killerkommandos zu Hinrichtungen eingeladen. "Auch ich habe ständig eine Heidenangst", gesteht er.
Warum macht er dann solche Fotos? Arcenillas verweist auf ein besonders blutiges Wochenende in El Salvador: Mitte August wurden dort bei Auseinandersetzungen zwischen der "Mara 18" und der "Mara Salvatrucha" 125 Menschen getötet. "So viele Opfer in 72 Stunden gibt es ja kaum in Syrien." Zentralamerika befinde sich in einem unerklärten Krieg. Aber das gehe bei der gegenwärtigen Weltlage völlig unter, kritisiert er.
Er will, dass man sich einfühlt
Arcenillas will mit seinen Fotos aufmerksam machen auf eine Region, die aus dem Fokus gefallen ist. Er stellt nicht bloß, er klagt nicht an, er will nur zeigen, was das Leben mit den Menschen in diesen Terrorzonen macht. Er fotografiert in Schwarz-Weiß, damit das Blut nicht die Bilder beherrscht. "Sonst wäre die Gewalt der Protagonist", sagt Arcenillas. Der Fotograf will, dass man die Menschen und ihren Schmerz auf seinen Fotos sieht. "Und ich wünsche mir, dass man sich einfühlt in die Situation, damit das Leid der Opfer unser Leid wird."
So zeigt Arcenillas die Tränen eines Mädchens in Angst, das geschwollene Gesicht eines verprügelten Mannes, die Verwundeten in der Notaufnahme des Krankenhauses, aber auch Gang-Kids, die mit Waffen drohen und Polizisten, die misshandeln. Trotz der Brutalität und des Schmerzes wirken die Fotos von Arcenillas ästhetisch, fast künstlerisch. Sie sprechen im Betrachter nicht den Voyeur an, sondern appellieren an Gewissen und Mitgefühl.
Dem Fotografen ist es wichtig, auf die sozialen Ursachen der Gewalt und die Versäumnisse des Staates hinzuweisen. "Es gibt in diesen Ländern nicht einen vernünftigen Politiker", klagt Arcenillas.
In der verrohten Gesellschaft greifen die Menschen oft zu brutaler Selbstjustiz. Auch das zeigt der spanische Fotoreporter in seinen Bildern.
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Der spanische Fotograf Javier Arcenillas hält die Gewalt in Zentralamerika fest - und begibt sich dafür oft in gefährliche Situationen. Hier lichtet er in Guatemala-Stadt die Drohgebärde eines vermummten Killers ab. Der junge Mann, der für 100 Dollar Auftragsmorde verübte, ist inzwischen selbst tot.
Rocket, ein junger Killer mit einer Machete. Er hat bei einer Konfrontation mit der Polizei sein linkes Bein verloren.
San Pedro Sula, eine Industriemetropole im Norden von Honduras, ist die Bandenhochburg des Landes. Hier ist ein Polizist während einer Razzia gegen die Bande "Los Alegría" im Einsatz, eine der gefürchtetsten Gruppen der Stadt.
Eine Szene in Tegucigalpa, Hauptstadt von Honduras. Zwei Jugendliche werden von der Polizei festgenommen und misshandelt. Sie waren mit Marihuana aufgegriffen worden.
Ein Graffito des honduranischen Straßenkünstlers "Maeztro Urbano", der auf seinen Bildern den täglichen Horror in den Straßen Tegucigalpas festhält.
Ein Mädchen, das auf den Straßen von Tegucigalpa lebt und Klebstoff schnüffelt. Die Zwölfjährige schneidet sich die Haare kurz, damit sie als Junge durchgeht und nicht vergewaltigt wird. Hier bricht sie in Tränen aus, als sie dem Fotografen von ihrem Leid erzählt. Mittlerweile lebt das Mädchen in einer Herberge für Straßenkinder.
In der Nachbarschaft fallen Schüsse: Menschen in San Pedro Sula brechen in Panik aus. Der Horror des Bandenkriegs ist zwar alltäglich, aber man gewöhnt sich nie richtig an die Gewalt.
Ein Sicario drückt einem Opfer eine Pistole gegen den Kopf und fordert Geld. Arcenillas wird regelmäßig von der Polizei festgenommen, sogar von den Chefs der Killerkommandos zu Hinrichtungen eingeladen. "Auch ich habe ständig eine Heidenangst", sagt er.
Ein Mann nach einem Angriff durch Mitglieder einer Killerbande. Weil er angeblich einen Drogenhändler bestohlen hatte, tötete die Bande seine Frau und seine Kinder.
Dieser frühere Gangster beteiligt sich heute an einem Reintegrationsprojekt des honduranischen Instituts für Kinder und Familie.
"Zelle Nummer 1 für Männer" steht über dieser Arrestzelle in einer Polizeistation in Tegucigalpa. Der aggressiv blickende Mann ist wegen Raubes und Drogenhandels verdächtig.
Lynchjustiz in Honduras: Ein Dieb liegt gefesselt in San Pedro Sula auf der Straße. Am nächsten Tag steht in den Zeitungen, dass der Mann gestorben ist.
Ein Mitglied der Bande "Los Alegría" sitzt festgenommen in einem Polizeifahrzeug. Darüber thront der vermummte Polizist.
Gewalt ist Mode in San Pedro Sula. Für viele Kinder in Honduras gilt es als schick, ein Bandenmitglied zu sein. Maras werden die Jugendbanden genannt. Hier ein Junge, der kein Mara ist, aber eine Pistole als Gürtelschnalle trägt.
Aurora Ramos wurde in Guatemala-Stadt erschossen. Sie hat dem Täter angeblich Geld geschuldet. Ein Schulkind geht vorbei, ein Polizist bewacht die Leiche.
Guatemala-Stadt: Eine 31 Jahre alte Frau wurde mit sechs Schüssen in einem Taxi niedergestreckt. Die Tat geschah in Zone 10, dem Hotel- und Ausgehviertel, das als eine der sichersten Gegenden der Hauptstadt gilt.
Krankenhaus San Juan de Dios in Guatemala-Stadt. In dieses Hospital werden die meisten Schusswunden-Opfer eingeliefert. Hier versorgen die Notärzte einen Mann, der aus Versehen in einen Schusswechsel geraten ist.
Wandbild in Guatemala-Stadt. Über zwei Totenköpfen steht: "In Guatemala ist immer Totentag."
Hier enden alle Bandenkriege. Ein Friedhof in Guatemala-Stadt zum Ende einer Beerdigung. Ein Mariachi - ein landestypischer Moritaten-Sänger - spielt eine letzte Melodie für den Toten.