

Strafprozess Detlev dealt noch immer


Aktenberg auf einer Richterbank
Foto: Deutzmann / imago imagesErinnerung
Erinnern Sie sich noch, sehr geehrte Leser, an das Jahr 2013? Das war vor Corona und vor Donald Trump, die sich gegenseitig die Existenz bestreiten. Sicher ist aber, dass es dreißig Jahre zuvor Detlev Deal gab, einen Strafverteidiger aus Mauschelhausen. Ihm gelang, was jedes Wissenschaftlers Traum ist: durch einen einzigen kleinen Aufsatz berühmt zu werden, den er 1982 in der Zeitschrift »Strafverteidiger« veröffentlichte. Der Text handelte vom Wesen und Unwesen des Deals im Strafprozess. Die schockierenden Einzelheiten der dort erstmals enthüllten Prozesspraxis war zuvor den Fachkundigen »als Richter« und »als Rechtsanwalt« natürlich unbekannt, »als Mensch« jedoch vertraut, wie es Vorsatz und Gewissen halt so treiben, wenn der Mensch mit einem Bein in der Illegalität steht. Nach 1982 wurde es unter Profis üblich, vom Deal einmal gehört zu haben und ihn so (gut) oder so (zulässig) oder so (unfein) oder gar so (unzulässig) zu »finden«.
Später fanden sich erste Dissertationen und ungläubige Erwähnungen des seltsamen Phänomens in Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (zum Beispiel BGHSt 38, 102) und des Bundesverfassungsgerichts (zum Beispiel »Neue Zeitschrift für Strafrecht« 1987, Seite 419). Dann geschah: nichts – wenn man davon absieht, dass Tausende von illegalen Deals gemacht und Hunderte von Tagungsreferaten gehalten wurden mit den Themen, ob es a) Deals überhaupt gebe, b) sie so heißen dürften, c) sie gut oder schlecht seien und d) man etwas dagegen tun könne, dürfe oder gar solle. Im Jahr 1994 riss dem 4. Strafsenat des BGH der Glaubensfaden. Er ersann eine Art richterrechtliches Hilfsgesetz und formulierte Mindestanforderungen an eine halbwegs mit der geltenden Strafprozessordnung vereinbare Praxis des Absprechens von Verfahrensergebnissen (BGHSt 43, Seite 195); der Große Senat für Strafsachen tat später noch etwas süßen Senf dazu (BGHSt 50, Seite 40). Da war ein großes Aufregen und So-geht-das-nicht und Da-muss-der-Gesetzgeber-ran. Der schuf nach weiteren vier Jahren das Verständigungsgesetz von 2009.
Zur Sache
Wir sprechen vom Deal im Strafprozess, einer Art Pferdehandel unter Ehrenleuten, bei dem es um die höchsten Güter und die beste Moral geht, die unser Staat zu bieten hat, und der trotzdem einen Weg gefunden hat aus den getäfelten Sälen der Kammern und Senate in die Herrentoiletten und Flure und gelöschten SMS. Das ist der düstere Teil. Dann gibt es noch das, was nicht Deal, sondern »Absprache« oder »Verständigung« genannt werden möchte. Es hat auf diesen bürgerlichen Namen einen Anspruch, seit im Bundesgesetzblatt I von 2009, Seite 2280, das »Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafprozess« veröffentlicht wurde. Das ist etwas Gutes, denn es trägt die Prinzipien der Konsensualität, der Harmonie und des Friedens in sich. Und was, wenn nicht dies, ist Ziel der Strafjustiz?
Nun gut, man könnte sagen: Strafjustiz kommt zum Frieden mit den Mitteln des Kampfs, und der fängt für gewöhnlich nicht schon mit einer Kapitulation des weißen Ritters an. Aber das Zauberwort »Konsensualität« ist natürlich trotzdem schön: Es klingt danach, dass der Bürger und sein Staat gemeinsam an einem Strang ziehen, obwohl der doch um den Hals des Bürgers läuft. Außerdem klingen noch andere schöne Worte an: Beschleunigung, Erledigung, Strafmilderung, Verzicht, Rechtskraft, Unkontrolliertheit, Geld, Ruhm und Ehre.
Nur beispielhaft: Eine Staatsanwaltschaft beschuldigt Herrn A., 8.500 Taten des Kapitalanlagebetrugs begangen zu haben. Herr A. hat zum Glück noch Freunde, die Strafverteidiger kennen, die wissen, dass es wirklich schwierig werden kann, 8.500 Taten, begangen in einem Zeitraum von vier Jahren als Geschäftsführer von zwölf verschiedenen, international verstreuten Kapitalgesellschaften, zu verhandeln, zu beweisen und abzuurteilen. Das Maß der Schwierigkeit eines solchen Strafverfahrens ist proportional zum Elan der Strafverteidigung, der wiederum proportional zur rechtsstaatlichen Überzeugungskraft der Honorarvereinbarung ist. Das ist nicht verboten, sondern so geht der Job (wenn man's mag).
Auf der anderen Seite finden wir eine Truppe von drei ermatteten Rittern in schlichtem Gewande, begleitet von zwei Knappen mit leerem Blick und von einigen Kommentaren in der vorvorletzten Auflage. Diese Truppe kämpft auf zwölf Turnierplätzen synchron und mag nicht mehr. Das war die Jammer-Variante. In der alternativen Variante geht es so: Auf der anderen Seite sitzen stählerne Roboter mit quadratischem Kinn und eisigem Blick, hinter sich die ganze Gewalt des Leviathan, entschlossen, jeden zu vernichten, der sich ihrem Diktat nicht beugen und ihre Statistik nicht schönen will. Sie hat die Sünder in der Hand der Macht, und Verteidiger zerquetscht sie mit der Faust der Gebührenordnung und des Standesrechts.
Vor 2009 gab es nur den Deal. Ab 2009 gab es die Absprache im Licht und den Deal – vielleicht – im Dunkeln. Was der Unterschied ist, versteht man, wenn man die Formen und die Ziele versteht, die hier noch enger zusammenhängen als sonst im Leben. Denn das Ziel ist die Formlosigkeit. Das Problem besteht daher darin, dass die Form nicht allein das Skelett, sondern auch das Fleisch des Strafprozesses ist. Strafprozess ist Form um der Sache der Gerechtigkeit willen. Er ist öffentlich und wird von neutralen Richtern nach Regeln geführt, die für alle gleich sind. Er hört die Beschuldigten an, foltert sie nicht, nötigt nicht die Zeugen, lässt keine Beweismittel verschwinden und übersieht keine Taten. Er hört die Opfer an, gibt jedem Beteiligten das Recht, Beweisanträge zu stellen, sich öffentlich zu äußern und befangene Richter abzulehnen. Er verlangt vom Beschuldigten nicht, Beweise gegen sich selbst zu liefern, Geständnisse abzulegen und die Strafe widerspruchslos hinzunehmen.
Diese Formen sind Rechte, die nicht die Macht ersonnen hat, sondern das Recht. Es wurden viele Millionen Menschen gequält und viele schlimme Ungerechtigkeiten begangen, bevor der Strafprozess diese Form hatte. Immer gab es auch Kritik und Zweifel: Warum so viel Federlesen mit Verbrechern? Wozu braucht ein Mörder noch Rechte? Warum sollen Lügner Rederecht, Verleumder Antragsrecht, Verzögerer Überlegungsrecht und Schuldige Rechtsmittelrecht haben? An jedem Tag kann man des Volkes Wünsche nach kurzem Prozess, Abschneiden von Rechten, Verkündung von Urteilen schon vor dem Prozess vernehmen, angeheizt von Geschwätz und Sensationslust.
Über das Strafen: Recht und Sicherheit in der demokratischen Gesellschaft
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27.01.2021 06.18 Uhr
Keine Gewähr
Welche Vorteile kann eine Absprache den Beteiligten bieten? Den Richtern den Vorteil, dass das Verfahren verkürzt und weniger anstrengend wird, dass man ein Geständnis des Beschuldigten hat und keine Beweiserhebung braucht, dass das Verfahren konfliktfrei verläuft, das abgesprochene Ergebnis akzeptiert und nicht angefochten wird, was dazu führt, dass man keine aufwendigen Urteilsgründe schreiben muss. Insgesamt eine gravierende Entspannung der Arbeitslast, Beschleunigung aller Abläufe, hohe Erledigungszahlen in verkürzter Zeit. Das bringt auch Ansehen: Der schafft was weg! Staatsanwälte haben ähnliche Vorteile: Absprachen können Ermittlungs- und Hauptverfahren um 90 Prozent verschlanken, verkürzen und vereinfachen.
Strafverteidiger haben Nachteile, wenn sie nach Zeitaufwand bezahlt werden. Das kann man durch Honorarvereinbarungen ausgleichen, wenn der Mandant satisfaktionsfähig ist. Ansonsten muss es über die Masse hereingeholt werden und über die guten Beziehungen, die man zu den Richtern und Staatsanwälten entwickeln kann, wenn man sich als einer erweist, »mit dem man reden kann«. Für die Akquise von Mandanten ist es nützlich, sagen zu können: Ich frage den Vorsitzenden mal, was sich machen lässt.
Für die Beschuldigten ist es eine Abwägungsfrage: »milde« Bestrafung einerseits, Prozessrisiko andererseits. Eine Frage der Beweislage, der Tatsachen, der Prognose. Man hat Glück, wenn man es sich aussuchen kann. Wer 8.500 Betrugstaten begangen hat, kann es sich meist aussuchen. Wer beim bewaffneten Raub festgenommen wurde, nicht: Er hat nichts zum Dealen. Eine Absprache ist eine Verfahrensform, von der alle Beteiligten nur Vorteile haben, bis auf einen: Das Tatopfer hat in der Regel nichts zu gewinnen. Deshalb wird es weder in der Variante der »Verständigung« noch in der Variante des »Deals« gefragt.
Auf der Strecke bleibt einiges: Die Öffentlichkeit wird nur noch am Rande beteiligt: Sie darf, wenn es hoch kommt, die Ergebnisse zur Kenntnis nehmen. In der legalen Variante teilt ihr das Gericht mit, dass man auf eine Beweiserhebung verzichten könne. In der Hinterzimmervariante entfällt auch das. Auf der Strecke bleibt vielfach das Recht: Es ist verboten, über das Recht zu dealen: also etwa über die Anwendung von Tatbeständen, die Verhängung von Maßregeln, die Bewertung als minder schwerer oder besonders schwerer Fall. So blöd, das ausdrücklich zu tun, ist auch niemand. Statt darüber zu dealen, ob »schwerer« oder »einfacher« Raub gestanden werden soll, unterhält man sich darüber, ob der Beschuldigte eine Waffe dabeihatte oder nicht, ob sie geladen war oder nicht, ob er einer Bande angehörte oder nicht. Das Deal-Angebot lautet: Geständnis des einfachen Raubs gegen Wegfall der Beweisaufnahme und Verhängung von zwei Jahren mit Bewährung. Die Alternative ohne Geständnis: besonders schwerer Raub und fünf Jahre, sechs Monate. Ähnlich geht das bei bandenmäßigem BtM-Handel, gewerbsmäßigem Betrug oder unklarer Beweislage über sexuellen Missbrauch von Kindern. Da kann man schwer Nein sagen, wenn auf der Gegenseite jemand steht, der einem richtig wehtun kann.
Auf der Strecke bleibt Gerechtigkeit: Zum einen im Sinn des Schuldprinzips, weil sehenden Auges unangemessen niedrige Strafen ausgeworfen und Beweise nicht erhoben werden. Zum anderen im Sinne der Gleichheit: Je mehr Verhandlungsmasse ein Beschuldigter mitbringt, desto besser sind seine Chancen beim Handel. Große Verhandlungsmassen haben die, die komplizierte Straftaten begehen: Wirtschaft, Umwelt, Betäubungsmittel, internationale Geschäfte mit Waffen oder Grundstoffen sind Dealmaker, denn da bringt ein »schlankes« Geständnis dem Gericht zwei Jahre Zeitgewinn und 500 Seiten Sorgfaltsersparnis beim Urteil. Bei Diebstahl, Körperverletzung oder Raub hat man in der Regel sehr wenig zum Dealen. Sogar beim Mord lässt sich verhandeln: Ist die Schuld besonders schwer, wenn ein reumütiges Geständnis die Vermutung der Rechtsfeindlichkeit widerlegt? Und auch bei Sexualstraftaten liegen die Verhandlungsmassen auf dem Tisch: Schlankes Geständnis, »opferschonend« abgekürzte Beweisaufnahme, übersichtliche Strafe und Rechtskraft. Es gibt Beweislagen, in denen Strafverteidiger ihren Mandanten zur Absprache auch für den Fall der Unschuld raten.
Recht und Ordnung
Was man dagegen für Sicherungen einbauen kann, hat das Verständigungsgesetz getan: Alle Gespräche über Verständigungen müssen protokolliert und in der Hauptverhandlung offenbart werden. Alle Angebote und Stellungnahmen müssen dokumentiert werden. Verboten sind Absprachen entgegen der Wahrheit, Absprachen über das materielle Recht, über Maßregeln der Besserung und Sicherung, über »Punktstrafen« (also genau vorherbestimmte Strafhöhen) und über Rechtsmittelverzichte. Sie werden bemerkt haben, dass es sich bei den Verboten durchweg um solche handelt, die den Beteiligten besonders wehtun, weil sie Verhaltensweisen betreffen, die den Deal gerade erst erstrebenswert machen.
Wenn sich die professionell für die Einhaltung des Rechts zuständigen Personen darauf einigen, das Gesetz nicht zu beachten, hat das Recht keine Chance mehr. Man kann es auch so ausdrücken: Je mehr das Gesetz gebrochen wird, desto weniger kann es herauskommen. Wenn sich alle augenzwinkernd einig sind und sich gegenseitig erpressen könnten, kann das BVerfG dem Rechtsstaat aus der Ferne ein paar Tränen nachweinen, sonst nichts.
Nun kann man sagen und sagte es vielhundertmal: Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte tun so etwas nicht. Organe der Rechtspflege dealen nicht Gerechtigkeit gegen Bequemlichkeit. Das Leben sagt dazu: Doch, tun sie. Wenn man das – wie unter anderen der Kolumnist – vor zehn Jahren feststellte, galt man als »Nestbeschmutzer« und Schwarzmaler. Es kann ja nicht sein, sprach Palmström, Vorsitzender des Richterbundes, Präsident des Anwaltvereins und Justizminister in einer Person, denn es ist ja verboten.
Im Jahr 2011 beauftragte das BVerfG einen Hochschullehrer mit einer empirischen Untersuchung über die Einhaltungsdichte und die Rechtstreue der Beteiligten. Das Ergebnis verschlug selbst kampferprobten Schönrednern kurzfristig die Sprache: 40 Prozent der Richter bekannten, sich entgegen der gesetzlichen Regelung weiterhin an illegalen Deals zu beteiligen. »Ohne Rechtsmittelverzicht gibt's bei mir keinen Deal«, ist ein Kraftspruch von Richtern, die als »erfahrene Praktiker« gelten möchten. Die verbotenen Punktstrafen werden heimlich vereinbart und fürs Protokoll mit Fake-Strafrahmen verziert. Beweislagen werden zwischen Vorsitzendem und Verteidiger besprochen und mit der Staatsanwaltschaft »abgestimmt«; sodann werden die Tatsachen so festgestellt, wie es das vorbestimmte Ergebnis verlangt. All das ist möglich, wenn man sich einig ist.
Die Motive sind nicht an sich verächtlich: Niemand, der mitmacht, tut es, um Ungerechtigkeit zu erzeugen. Alle wollen das Beste: für den Mandanten, für die Opferzeugen, für das Recht, die Beschleunigung, die Karriere und die Statistik. Und immer für die Gerechtigkeit! Denn was kann einem Richter Schöneres passieren als von allen Regeln des 200 Jahre alten Strafprozesses befreit endlich wieder »Kadi« zu sein, endlich der Gerechtigkeit aus der Weisheit des Bauchgefühls heraus dienen zu dürfen, ohne Erbsenzähler in Karlsruhe fürchten zu müssen? Braucht ein Mehrfach-Trunkenheitstäter am Amtsgericht rechtliches Gehör, Gutachten über Spuren oder Schuldfähigkeit oder Herbeischaffung von Zeugen, um zu kriegen, was er verdient hat und akzeptiert? Lassen sich Verfahren wegen hundertfachen Kindesmissbrauchs nicht auch dann, wenn der Angeklagte sagt, »eigentlich« sei er unschuldig, mittels Formalgeständnis gegen Bewährungsstrafe erledigen? Ich kenne keinen (!) Richter oder Staatsanwalt, der gesagt hätte, ein von ihm geschlossener Deal habe ein »falsches« Ergebnis gehabt. Das ist ja das Schöne an der Konsensualität, dass alle mit sich zufrieden sind.
Bewährungsfrist
Vor sieben Jahren sprach das Bundesverfassungsgericht (Aktenzeichen 2 BvR 2628/10), so gehe das nicht: Das Verständigungsgesetz sei nur dann verfassungsgemäß, wenn es auch in der Praxis die Einhaltung der zwingenden Regeln sicherstelle. Dies laufend zu überprüfen, sei Aufgabe des Gesetzgebers, und die Verfassungsgemäßheit des Gesetzes hänge davon ab, wie diese Prüfung ausfalle. Im Übrigen sei die Staatsanwaltschaft zur Kontrolle der Rechtstreue berufen; ihre Aufgabe sei es, Umgehungen des Gesetzes zu verhindern.
Ja, da schworen alle, dass sie genau das schon immer hätten sagen wollen und nun aber ganz sicher seien, dass nichts Böses mehr vorkommen werde. Seither hörte und sah man (fast) nichts mehr: keine Deal-Skandale, keine Revisionseinlegungen durch die Staatsanwaltschaft, keine Anklagen wegen Rechtsbeugung, keine Wiederaufnahmen. Stattdessen Heulen und Zähneknirschen tief besorgter Bürgerscharen, die die Umständlichkeiten mit sowieso Schuldigen bejammerten: Fremden, Aufsässigen, Kinderpornografen und anderen, die nach Ansicht von Medien, Blogs und Portalen ihre Rechte schon »verwirkt« haben, wenn eine Polizeigewerkschaft das sagt.
Das Bundesministerium der Justiz beauftragte drei Professoren verschiedener Universitäten mit einer großen Studie zur Evaluation. Sie liegt jetzt vor (Altenhain, Jahn, Kinzig: Die Praxis der Verständigung im Strafprozess, 2020): Man kann die 540 Seiten auf der Homepage des Ministeriums finden; demnächst erscheinen sie als Buch. Ich beschränke mich hier auf folgende Vorabinformation: 30 Prozent der Richter und 80 Prozent der Strafverteidiger haben in Befragungen angegeben, dass in ihrer Praxis illegale Deals weiterhin vorkommen und üblich sind. Die Staatsanwaltschaften tun dagegen praktisch nichts beziehungsweise wirken mit. Dabei kann man annehmen, dass die Befragten sich so verhalten wie in kriminologischen Studien üblich: Die Richter und Staatsanwälte haben die Zahl ihrer Verstöße vermutlich untertrieben, die Rechtsanwälte übertrieben. Letzteres ist interessant, weil es die Annahme stützt, dass die treibende und dominierende Macht illegaler Absprachen heute eher die Gerichte als die Verteidigung sind; Strafverteidiger stellen sich oft als eine Art Opfer von gerichtlichem Druck dar, dem sie sich nur fügen, weil sie ihren Mandanten nicht schaden wollen. Das ist natürlich euphemistisch, denn sie könnten ja nach Verkündung der Urteile absprachewidrig Rechtsmittel einlegen oder die Illegalität skandalisieren. Das ist nicht verboten! Aber natürlich unfein und nicht nützlich fürs eigene Fortkommen. Erwähnt werden soll es trotzdem, wegen »Organ der Rechtspflege« und im Hinblick auf die Festreden des Vorstandspersonals der Rechtsanwaltskammern.
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Die Bewährungsfrist, die das BVerfG im Jahr 2013 eingeräumt hat, ist abgelaufen. Nun müssen wir entscheiden, ob sie ein lustiger Zeitvertreib verflossener Verfassungsrichter war oder ein ernst gemeinter Hinweis auf die Grenze des Rechts und das Ende der guten Laune. Eine Strafjustiz, deren Personal sich verhält wie zwischen Radarfallen umherfahrende Autofahrer, kann kaum den Anspruch erheben, Sinnbild von Glaubwürdigkeit und Garant des Rechtsstaats zu sein. Rechtsstaat bedeutet nicht zuallererst, dass man sich bemühen soll, Ergebnisse »irgendwie« gerecht hinzukriegen. Sondern dass der Staat sich an die eigenen Regeln hält, dass staatliches Handeln und staatliche Gewalt unter dem Recht stehen. Wer das nicht will und nicht versteht, mag ein netter Mensch sein. Für das Strafrecht taugt er nicht.
Was tun?
Nun darf man sehr gespannt sein auf die Reaktionen. Sollten diese sich in neuerlichen Appellen an den guten Willen erschöpfen, wäre die Grenze zur Albernheit deutlich überschritten. Ein Staat, der seinen Bürgern Strafen und Bußen für Rechtsverletzungen androht, darf nicht bei notorischen Rechtsverletzungen des eigenen Personals untätig wegschauen. Das Schicksal des Strafrechts entscheidet sich nicht in der alljährlichen Verschärfungsrunde für Kinderpornografie oder »psychische Belästigung«, sondern im Vertrauen darauf, dass die Organe des Rechts sich an das ihnen selbst gesetzte Recht halten und es nicht aus Faulheit, Überheblichkeit oder Feigheit umgehen und beugen.
Die prozessualen Sanktionen für Verstöße gegen das Prozessrecht müssen verschärft und wirksam kontrolliert werden. Die von den angeklagten Taten geschädigten Personen und ihre Rechtsvertreter müssen in mögliche Verständigungsgespräche einbezogen werden; sie müssen ein Recht zur Intervention, zur Verhinderung von unangemessenen Ergebnissen und zum Rechtsmittel erhalten. Man sollte auch über ein angemessenes System des »Whistleblowing« nachdenken, das es unter Druck stehenden Beteiligten oder Zeugen (Beisitzern, Schöffen, Justizbeamten, Rechtsanwälten) ermöglicht, auf illegale Deals hinzuweisen, ohne einem »kollegialen« Mobbing ausgesetzt zu sein. Vorsätzliche Umgehungen des Rechts müssen informell geächtet, aber auch formell verfolgt werden. Es ist nicht erträglich, dass Richter, die geschworen haben, jederzeit nach Recht und Gesetz zu entscheiden, bei vorsätzlichen Gesetzesbrüchen von jeder strafrechtlichen Verantwortung freigestellt werden, wenn sie nur beteuern, sie hätten das für »gerecht« gehalten. Diese Privilegierung der Rechtsbeugung – flankiert von einer »Sperrwirkung« für alle zugleich verwirklichten Tatbestände – ist weder für die Unabhängigkeit der Justiz erforderlich noch für das Vertrauen in die Justiz nützlich. Richter und Staatsanwälte sind nicht bessere Menschen als andere. Sie benötigen, um sich nicht strafbar zu machen, keine Privilegien, die eine Bestrafung nur bei grober Dummheit überhaupt möglich machen.
Erforderlich ist, über die Struktur des Prozessrechts insgesamt, das Rechtsmittelsystem und die materiellen Anforderungen nachzudenken. Eine substanzielle Entlastung ist erforderlich. Sie muss beim materiellen Recht beginnen und aufhören, immer mehr kaum handhabbare Tatbestände ins Gesetz zu drücken und die Praxis mit der Überlastung alleinzulassen. Strafrecht ist kein Präventionsrecht und darf nicht weiter zum Feld für Maßnahmegesetzgebung und politische Rechtssymbolik gemacht werden.
Die Alternativen liegen auf dem Tisch. Nichts zu tun, zerstört den Strafprozess, den wir kennen, mitsamt seiner Legitimität. Es würde überdies die Rechtsprechung des BVerfG in eklatanter Weise desavouieren. Voranzugehen bedeutet, eine Chance zu haben. Das sagte übrigens einst schon Lukas der Lokomotivführer bei Durchquerung des Tals der Dämmerung. Und kam bis nach China.