Internet-Pranger Tödliche Jagd auf US-Sexualstraftäter
Hamburg - Joseph Gray schlief in dieser Nacht auf seiner Couch, als seine Hunde draußen vor dem Haus im US-Bundesstaat Maine zu bellen begannen. Der 57-jährige Gray wurde von seiner verängstigten Frau geweckt: Da draußen laufe ein Fremder herum. Plötzlich krachten Schüsse, Glas splitterte. Der Fremde erschoss Gray durchs Fenster. Fünf Stunden nach dem Anschlag in Milo starb auch der 24 Jahre alte William Elliott. Jemand hatte an seinen Wohnwagen im nahen Corinth geklopft und durch die Tür gefeuert.
Weil sich Elliotts Freundin die Nummernschilder am Wagen des Täters merkte, kamen die Polizisten dem Schützen schnell auf die Spur: Er hieß Stephen A. Marshall und kam aus Nova Scotia in Kanada. Als die Polizisten ihn am Mittag in einem Bus stellen wollten, erschoss sich der 20-Jährige vor ihren Augen.
Der seltsame Fall von Doppelmord ist damit gelöst - doch noch immer rätseln die Ermittler darüber, warum der bislang unauffällige Marshall vor einer Woche die ihm unbekannten Männer als Opfer aussuchte. Eine der Thesen: Weil sie verfügbar waren. In Marshalls Gepäck fanden die Ermittler einen Laptop mit den Namen und Adressen von 34 Sexualstraftätern: Auch Gray und Elliott gehörten dazu. Marshall hatte die Daten aus einer der zahlreichen Internet-Datenbanken, in denen Sexualstraftäter in den USA registriert sind. Viele dieser auch als Pranger bekannten Internetlisten sind öffentlich zugänglich.
Verurteilt wegen Sex mit Freundin
"Predators", Raubtiere, werden die Leute, die auf diesen Listen stehen, in der amerikanischen Öffentlichkeit genannt. Die Taten der "Raubtiere" Gray und Elliott unterschieden sich allerdings deutlich: Gray war wegen mehrfacher Kindesvergewaltigung verurteilt worden. Elliott dagegen hatte man wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger verurteilt: Er hatte Sex mit seiner 15-jährigen Freundin gehabt.
Schon immer waren die öffentlichen Sextäter-Datenbanken in den USA umstritten. Ihre Grundlage bildet das sogenannte "Megan's Law": Im Juli 1994 war die sieben Jahre alte Megan Kanka in New Jersey von ihrem Nachbarn, einem vorbestraften Kinderschänder, missbraucht und ermordet worden. Von dessen Vergangenheit hatte keiner der Anwohner gewusst. Seitdem haben alle US-Bundesstaaten den Umgang mit den insgesamt 500.000 registrierten Sex-Straftätern drastisch verschärft. In Kalifornien beispielsweise werden ihre Namen mit Foto, Adresse, Vorstrafen und besonderen Merkmalen im Internet veröffentlicht. Zieht ein Täter um, werden in seiner neuen Nachbarschaft Warnhinweise ausgeteilt.
Einige Experten warnen vor den Folgen dieses lebenslangen Bloßstellens: "Wir haben viel dafür getan, um diese Sorte Straftäter zu dämonisieren", zitiert die "Washington Post" Strafverteidiger William Buckman aus New Jersey. "Es ist also vorhersehbar, dass sie das Opfer von Gewalt werden." Das Haus eines Klienten von Buckman wurde angezündet, einem anderen schüttete man Müll in den Vorgarten.
Schikanen und Gewalt gegen die "Raubtiere"
Einer US-Studie zufolge werden 50 Prozent aller registrierten Sextäter schikaniert. Die öffentlichen Täterlisten würden in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, als seien die Aufgelisteten auch nach abgesessener Strafe noch Verbrecher, warnen Kriminologen. Erst im vergangenen August hatte sich in Washington ein Mann als FBI-Agent ausgegeben, um sich so Zugang zu den Wohnungen dreier Sextäter zu erschleichen, und zwei von ihnen getötet. Die Polizei nahm daraufhin die Hausnummer der Täter von ihrer Website. "Die öffentlichen Listen dienen nicht der Strafverfolgung", kritisiert die Sprecherin einer Bürgerrechtsorganisation. "Die Polizei hat die Informationen ja schon." Aus Angst und Scham könnten viele Täter in den Untergrund flüchten, fürchtet sie.
Dennoch: Dass die Datenbanken geschlossen werden, ist äußerst unwahrscheinlich. "Alles ist zugänglich und läuft wie bisher", heißt es aus Massachusetts. Dort hat gerade ein Strafverteidiger gefordert, die Internetpranger wenigstens solange zu sperren, bis man Sicherheitsrichtlinien für deren Benutzung entwickelt habe - vergeblich. Rechtlich ist an Megan's Law nicht zu rütteln. So bestätigte 2003 auch der Oberste Gerichtshof der USA, dass der Schutz der Öffentlichkeit wichtiger als die Persönlichkeitsrechte der Täter sei.
In Kanada, der Heimat des Todesschützen Marshall, hat man jetzt anscheinend Gefallen gefunden am restriktiven Umgang der US-Behörden mit den Tätern. Die konservative Partei Kanadas plant, die vorhandene landesweite Liste auf alle Sexualstraftäter auszudehnen - egal, wie lang die Tat schon zurückliegt. Bislang sind 12.000 Personen mit ihren Wohnorten registriert, die Daten sind aber nur der Polizei zugänglich. In der Provinz Ontario, die eine eigene, umfassendere Liste an Sexualstraftätern führt, will dagegen der Abgeordnete Gerry Martiniuk mit einer Gesetzesvorlage erreichen, dass zumindest die Provinz-Liste veröffentlicht wird - inklusive Namen, Fotos und Adressen.