Thomas Fischer

Jugendkriminalität Kinder als Opfer, Kinder als Täter

Wie kann man Kinder vor Straftaten schützen - und wie soll man mit Kindern umgehen, die selbst schwere Straftaten begehen? Das Thema ist voller Fallstricke und Scheingefechte.
Bewaffneter Polizist (Archiv): Wie umgehen mit Kindern, die schwere Straftaten begehen?

Bewaffneter Polizist (Archiv): Wie umgehen mit Kindern, die schwere Straftaten begehen?

Foto: Oliver Berg/ picture alliance / dpa

In der vergangenen Woche erregten zwei Themen aus dem Bereich des Strafrechts Aufmerksamkeit: die Verurteilung des Angeklagten im "Fall Susanna" durch das Landgericht Wiesbaden sowie die Meldungen über zwei mutmaßliche Sexualstraftaten in Mülheim an der Ruhr. Beide Themen haben erregte kriminalpolitische Diskussionen veranlasst. Trotz des ganz unterschiedlichen Verfahrensstandes erscheinen an dieser Stelle zu beiden Themen ein paar Bemerkungen angebracht.

Empathie

Am 10. Juli wurde ich Ohrenzeuge eines Radioberichts über die Urteilsverkündung im "Fall Susanna". Höhepunkt der Darbietung war ein Einspieler mit dem Originalton der Mutter des getöteten Mädchens. Weinend stammelte diese, sie sei zwar zufrieden, dass der Täter nun anderen Mädchen nichts mehr antun könne, andererseits mache das ihre Tochter nicht wieder lebendig. Was dem Zuhörer damit gesagt werden sollte, bleibt im Unklaren. Aufzeichnung und Ausstrahlung dieses O-Tons gelten vermutlich als gelungener Reportereinsatz, und das bloße Anhören ebenso wie das Betrachten von Fotos der weinenden Diana F. erscheinen Voyeuren gewiss als erneuter Beleg für ihren Willen zur mitfühlenden Teilnahme. Ich frage mich allerdings, wie verkommen und verroht man sein muss, um diese Bewertungen zu teilen.

Über die Tat und ihre Vorgeschichte sowie über den Prozess ist das, was Außenstehenden das Gefühl des Dabeiseins vermitteln sollte, vielfach berichtet worden, einschließlich aller verfügbaren Einzelheiten aus dem Leben des Tatopfers. Auch soziale Position, Kompetenz und Biografie der Mutter wurden umfassend öffentlich vermessen.

Nun hat das Landgericht - Schwurgerichtskammer - ein Urteil gesprochen. Der 22-jährige Angeklagte wurde wegen Vergewaltigung in Tatmehrheit mit Mord (Tötung in der Absicht, die vorausgegangene Straftat zu verdecken) sowie wegen weiterer Straftaten zu einer lebenslangen (Gesamt-)Freiheitsstrafe verurteilt. Das Gericht stellte außerdem fest, "dass die Schuld besonders schwer wiegt". Überdies wurde entschieden, dass die nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung vorbehalten bleibt. In einer zivilrechtlichen "Anhangsentscheidung" wurde dem Angeklagten auferlegt, ein Schmerzensgeld in Höhe von 50.000 Euro an die beiden Nebenklägerinnen zu zahlen (ob er das jemals kann, ist eine andere Frage).

In der Presse, die wahrlich Zeit genug hatte, sich minimale Sachkunde zum Verfahren anzueignen, konnte man zu diesem prozessualen Sachverhalt wieder allerlei dummes Zeug lesen: So etwa, der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung (SV) sei angeordnet worden, ("weil" die Schuld besonders schwer wiege (Hessenschau.de, 10. Juli), ein Verteidiger habe "angekündigt, Berufung einzulegen" ("FAZ", 11. Juli), und so weiter. Mit der Schuldschwere hat die SV aber schon im Ansatz nichts zu tun; und "Berufung" gegen ein Urteil einer großen Strafkammer ist gar nicht statthaft. Egal - Hauptsache, der Sound stimmt. Gut zu wissen, dass die Mutter des Tatopfers der Urteilsverkündung "in schwarzer Kleidung" beiwohnte, "weinte und gelegentlich nach Luft ringen musste" ("SZ", 11. Juli). Wichtiger ist aber, was zum Inhalt der Urteilsbegründung berichtet wurde. Es spiegelt sich in den Überschriften der Presseberichte: "Ein Mann ohne jedes Mitgefühl" oder "Keine Spur von Mitgefühl". Darauf muss man kurz eingehen.

Die vorsätzliche Tötung eines Menschen durch unmittelbare körperliche Gewalteinwirkung ist ein seiner Natur nach brutaler, gewalttätiger, erschreckender, tabuverletzender Akt. Die meisten Menschen hierzulande sind einem solchen Geschehen noch nie näher gekommen als durch Medienberichte oder Filme, also praktisch gar nicht. Kaum jemand hat jemals eine Gerichtsverhandlung wegen eines Tötungsverbrechens miterlebt, eine Leiche mit schweren Verletzungen gesehen oder einer Obduktion beigewohnt. Für die große Mehrzahl spielt sich das alles nur in der Fantasie ab, die von Medien gestaltet und gesteuert wird. Viele Beschreibungen, die in öffentlichen Medien zu solchen Verfahren verbreitet werden, sind auf Emotionalisierung ausgerichtet, bedienen ein Bedürfnis nach Miterleben, heizen es zugleich an und steuern die Bewertung. Eine häufige Methode ist es, Zwangsläufigkeiten oder Selbstverständlichkeiten eines Geschehens als herausragende Besonderheiten darzustellen. Man muss ein paar Schritte zurücktreten und versuchen, den Überblick zu behalten.

In § 46 Abs. 3 StGB ist geregelt, dass ein Umstand, der zum gesetzlichen Tatbestand einer Straftat gehört, nicht zusätzlich als besonders schuldsteigernd und straferhöhend gewertet werden darf: "Verbot der Doppelverwertung" nennt man das. Man darf also nicht einen Dieb deshalb höher bestrafen, weil er "das Eigentum missachtet" hat - denn das ist ja Voraussetzung jedes Diebstahls. Die Strafe wegen Tötung eines Menschen darf nicht verschärft werden, weil der Täter "ein Menschenleben vernichtet hat", die Strafe wegen Straßenverkehrsgefährdung nicht deshalb, weil der Täter "rücksichtslos" war; und wegen Vergewaltigung wird man nicht härter bestraft, weil man "seine Interessen über die des Opfers gestellt" hat; und so weiter. All das ist - für den jeweiligen Straftatbestand - nämlich "normal".

Bis heute kommt kaum ein Bericht über den Mord an dem Mädchen Susanna ohne den Hinweis aus, der Hals des Opfers sei beim Erdrosseln stark komprimiert und die Leiche sei "verscharrt" worden. Beides ist aber keineswegs per se schulderhöhend. Man kann einen Menschen nämlich nicht erdrosseln, ohne die Atmung mit großer Kraft zu verhindern. Und ein Raub oder ein Totschlag werden nicht automatisch deshalb schlimmer, weil der Täter das Tatwerkzeug wegwirft oder die Leiche versteckt, um nicht überführt zu werden.

Ähnliches gilt auch für die emotionale Verarbeitung durch einen Täter. Schuldgefühl, Reue, Entschuldigung, Verzweiflung über die eigene Tat machen eine Tat nicht zwangsläufig "besser" oder mindern stets die Schuld; umgekehrt ist ihr Fehlen - oder auch nur: ihr Nichtzeigen - nicht automatisch "schulderhöhend". "Er nahm das Urteil ohne erkennbare Gefühlsregung entgegen" - dieser gern benutzte Vernichtungssatz der Stil-Richter unter den Gerichtsreportern signalisiert eine schlechte B-Note und führt den jeweiligen Angeklagten als gewissenlosen Menschen vor, der die Frechheit besitzt, sich vor der "Bild"-Gemeinde nicht auf die Knie zu werfen. Der Leser ist dann angemessen empört und freut sich auf die nächste Folge der Dokureihe "Die härtesten Gefängnisse der Welt" (Werbung: "gewährt spannende Einblicke in den harten Alltag des Wachpersonals"). Jeder Leser mag sich an dieser Stelle einmal probeweise vorstellen, wie er selbst sich im Moment einer Urteilsverkündung gern präsentieren würde.

Ali B., der Angeklagte von Wiesbaden, in einer stillschweigend zu den Akten gelegten "Sonderaktion" ("SZ") aus dem wilden Kurdistan herbeigeschafft, hat, wie wir lasen, nach Ansicht einer Gutachterin und des Landgerichts eine schwere Persönlichkeitsstörung, die ihn "unfähig" macht, Mitgefühl, Empathie, eigene Verantwortung zu empfinden. Nun ist in zivilisierten Rechtsordnungen die ärztlich festgestellte "Unfähigkeit", etwas zu leisten, in der Regel kein Anlass, das Ausbleiben der erwünschten Leistung als besonders verächtlich und verwerflich anzusehen: Wer unfähig ist zu sehen, wird nicht wegen Blindheit bestraft; wer unfähig ist zur Intelligenz, gilt nicht als Schwerverbrecher, sondern als Kranker.

Beim "Mangel an Mitgefühl", bei der "dissozialen Persönlichkeitsstörung", beim "geborenen Verbrecher" ist das irgendwie anders: Die "Unfähigkeit zum Mitgefühl" gilt zwar als therapiebedürftige psychische Störung, die zu einer krankheitsartigen "Gefährlichkeit" führt, hat aber mit der "Schuld" angeblich nichts zu tun - ja soll sie noch steigern, bis ins unermessliche, absolute, lebenslange. Ali B., so lesen wir, hatte keine schwere Kindheit, sondern wurde "verhätschelt" (Ganz schlimm! Könnte anständigen deutschen Gerichtsreportern nie passieren!). Also ist alles, was aus ihm wurde (Frauenverachtung! Gefühlskälte! Anspruchsdenken!) keinesfalls Schicksal, sondern pure "Schuld", und zwar "besonders schwere". Diejenigen, die seinen Mangel an Empathie besonders laut beklagen, fordern am lautesten, dass Ali B. ohne Gnade und Mitleid vernichtet werden solle für diese Schuld.

Das ist eines der sehr komplizierten Rätsel der Strafrechtswissenschaft. "Schuld" ist die persönliche Verantwortung für Unrecht. Dann kann aber eine Einschränkung der Fähigkeit zu dieser Verantwortung eigentlich nie "unerheblich" für die Schuld sein. Selbst wenn die (ziemlich fiktive!) Grenze der im Gesetz genannten "erheblichen Verminderung" von Verantwortungsfähigkeit (§ 21 StGB) nicht überschritten wird, kann eine Verminderung, die knapp unter dieser Grenze bleibt, die Schuld, wenn es logisch zugeht, nicht steigern.

So einfach, wie es scheint, ist es also nicht mit der "besonderen Schuldschwere". Das Merkmal ist ja sowieso nur über einen Umweg in das Gesetz und in die Urteile der Schwurgerichtskammern gekommen. Eigentlich gehört der Begriff zur Prüfung einer Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung, vor dem Ende des Strafvollzugs. Diese Prüfung wird von der sogenannten Strafvollstreckungskammer durchgeführt und kann bei lebenslangen Freiheitsstrafen frühestens nach 15 Jahren erfolgen (§ 57a StGB). Aufgrund einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts muss seit 1992 aber schon das Erstgericht ausdrücklich entscheiden, ob die Schuld "besonders schwer" ist und (deshalb) einer Reststrafenaussetzung entgegensteht. An diese Feststellung ist die Strafvollstreckungskammer dann noch 15 oder 20 Jahre später gebunden. Ob diese Konstruktion überzeugend ist, ist streitig, kann aber hier dahinstehen. In der Praxis werden lebenslange Freiheitsstrafen, wenn überhaupt, ohne "Schuldschwere"-Feststellung nach durchschnittlich 18 Jahren, mit Feststellung nach durchschnittlich 24 Jahren auf Bewährung ausgesetzt.

Wenn so viel Zeit vergangen ist (Ali B. wird dann knapp 50 sein), ist regelmäßig von "Aufarbeitung", "Therapie", "Auseinandersetzung mit der Tat" nichts mehr übrig. Meist nach spätestens zehn Jahren JVA sind die "lebenslang" Gefangenen stumpf, formal angepasst, defensiv, reduziert. Die meisten haben dann keinen Kontakt mehr nach "draußen". Viele werden in der Haft schwer krank oder dement, nicht wenige sterben dort; andere stellen gar keinen Aussetzungsantrag mehr. Die Rückfallquote bei "Lebenslänglichen" ist sehr gering.

Eine Aussetzung der Reststrafe ist nur zulässig, wenn der Verurteilte nicht "gefährlich" ist, also nicht die Gefahr besteht, dass er in Freiheit weitere erhebliche Straftaten begehen wird. Deshalb ist die Anordnung der "Sicherungsverwahrung" (nach § 66 oder als "Vorbehalt", § 66a StGB) zusätzlich zur lebenslangen Freiheitsstrafe insoweit zweifelhaft, als SV und Aussetzung zur Bewährung sich gegenseitig ausschließen: Zur Anordnung der SV (die Gefährlichkeit voraussetzt) kommt es gar nicht, wenn Gefährlichkeit gegeben ist; umgekehrt kann bei fortbestehender Gefährlichkeit keine Reststrafenaussetzung erfolgen. Faktisch hat das Ganze also einen hohen "Symbol"-Charakter. Der Gesellschaft, die sich angeblich über die Maßen für Schuld, Verantwortung, Gefahr und Traumatisierung interessiert, ist das alles weitgehend gleichgültig. Trotzdem muss man daran erinnern, dass SV nicht eine "Zusatzstrafe" ist, sondern ein "Sonderopfer". Sie hat mit "Schuld" nichts zu tun - wie eine Geisteskrankheit, die in zivilisierten Gesellschaften bekanntlich zur Unterbringung in einem Krankenhaus und nicht zu harter "Strafe" führt.

Auch für die Wirklichkeit und die Probleme des Strafvollzugs interessiert sich fast niemand. Darüber nachzudenken, gilt als "täterfreundlich" oder "unempathisch". In Wirklichkeit ist es den meisten einfach nur zu anstrengend, sich näher mit den schwierigen Einzelheiten zu befassen. Aus den Augen, aus dem Sinn: Der nächste Aufregerfall wartet schon.

Kinder

Die Lage in den beiden Mülheimer Fällen ist anders. Hier fehlt es (noch) an Detailinformationen über mögliche Tathergänge, Beschuldigte und Tatopfer. Zu einem 14-jährigen Beschuldigten der ersten Tat ist bekannt geworden, gegen ihn sei Untersuchungshaft angeordnet worden, weil er in der Vergangenheit - als Kind - zweimal "wegen sexueller Belästigung aufgefallen" sei. Dies, in Verbindung mit dem Umstand, dass alle fünf Verdächtigen dieser Tat - 12 und 14 Jahre alt - bulgarische Staatsangehörige (also EU-Bürger) sind, hat gereicht, um zwei Erregungszüge abfahren zu lassen: Straftaten durch Kinder und (junge) Jugendliche zum einen, Kriminalität von jungen Ausländern zum anderen. Die Kopplung beider Züge ist da quasi ein Selbstläufer.

Das Geschehen selbst hatte bis zum 11. Juli schon jede "Mutmaßlichkeit" abgelegt und firmierte unter der Bezeichnung "grausame Gruppenvergewaltigung". Elmar Brok aus Bielefeld, Fachmann für Außenpolitik, wusste auch gleich, wer schuld ist, und konnte "Bild" daher "eine erste kriminologische Analyse" liefern ("CDU-Mann Brok liest Kommunen die Leviten"): Erforderlich sei "eine härtere Gangart gegen kriminelle Familien und Clans"; auch dürften Sozialhilfebetrüger unter Sinti und Roma nicht so nachsichtig behandelt werden. Einen weiteren sachkundigen Gewährsmann hat "Bild" in MdB Jan-Marco Luczak aus Berlin gefunden und unter dem Titel "Steckt Brutalo-Kids in geschlossene Heime!" vermarktet (10. Juli). Dr. Luczak, Rechtsanwalt in einer Wirtschaftsgroßkanzlei, rief den Verharmlosern von Mülheim mit erhobenem Berliner Zeigefinger zu: "Ein erhobener Zeigefinger und eine Woche Schulentzug reichen als Antwort nicht aus." Da wäre man nicht drauf gekommen. Zum geschlossenen sogenannten "Heim", das für "Intensivtäter" zwischen 9 und 13 Jahren gefordert wird, darf auf vielfältige Erfahrungen mit Einrichtungen für "schwer Erziehbare" verwiesen werden. Sie waren zu jeder Zeit Brutstätten auch für Entfremdung, Traumatisierung, Missbrauch und Kriminalität.

Wo so viel kriminologische Sachkunde und Empathie walten, kann Kommissar Wendt nicht weit sein, der "Chef" der "Deutschen Polizeigewerkschaft". "Bild" fragte blöd: "Ist man mit 12 Jahren alt genug, um zu vergewaltigen, aber zu jung, um dafür bestraft zu werden?" (10. Juli), und bekam von Herrn Wendt die erwünschte Antwort. Fehlt noch ein bisschen Psycho-Wissenschaft: "Sind diese Kinder überhaupt therapierbar?" Kinderpsychiater Dr. Lüdtke gab Auskunft: "Kinder und Jugendliche mit einer starken antisozialen Störung halte ich für schwer bis nicht therapierbar … Resozialisierung funktioniert nur bei Menschen, die vorher sozialisiert waren. Und das ist bei manchen Kindern nicht der Fall." So hält, gerade für Mediziner, die lateinische Sprache auch heute noch so manches feine Argument bereit. Auf welche Weise Dr. Lüdtke zu Sachkunde hinsichtlich der Kinder von Mülheim gekommen sein könnte, erfährt man allerdings nicht. Inzwischen wird darüber berichtet, er sei übel beschimpft worden, weil er nicht genügend Empathie mit dem Tatopfer gezeigt habe.

Geradezu gespenstisch mutet an, dass tagelang in den Medien erörtert wurde, ob, warum oder warum nicht man "die Familien der mutmaßlichen Täter" ausweisen ("zurückführen") könne; am Ende ergab sich, dass dies leider am EU-Recht und am Freizügigkeitsgesetz scheitern würde. Wohlgemerkt: Die Rede ist von den Familien von Kindern oder sehr jungen Jugendlichen, die verdächtig sind, eine erhebliche Straftat begangen zu haben. Weder weiß die Öffentlichkeit, was genau geschehen ist, noch welcher Beteiligte was getan hat, noch welche Folgen die Tat hat. Dass vorab öffentlich geprüft wird, ob man nicht auf die Schnelle Mütter, Väter, Geschwister oder Großeltern von mutmaßlichen Tätern im Kindesalter in die Roma-Slums nach Bulgarien "zurückführen" kann, ist bemerkenswert.

Ach ja, überhaupt unsere Kinder! Seit ungefähr 25 Jahren sind sie, vor allem in den USA und Deutschland, so bedroht wie noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Sie sind einer praktisch allgegenwärtigen Gefahr ausgesetzt, verletzt, behelligt, verstört, missbraucht, traumatisiert zu werden. Sie müssen nicht nur rund um die Uhr vor katholischen Priestern und den Lebensgefährten ihrer multigetrennten Mütter beschützt werden, sondern auch vor der Lektüre von "Hänsel und Gretel", dem König von Taka-Tuka-Land oder homophoben Geschichten über Sindbad. Sie sind Opfer grausamen Mobbings in allen Klassen- und Vorschulstufen, unschuldiges Mastvieh von Palmölkonzernen, überfordert von der Play-Station, schlaflos wegen des Schicksals der kleinen schwarzen Meerjungfrau, überbehütet oder verwahrlost, emotional unterversorgt oder unverstanden, zur Leistung verdammt und jedes Jahr immer dümmer. Ihre Rente ist unsicher, ihr Erbe wird verprasst, ihre Zukunft vernichtet von den moralisch fehlerfreiesten Eltern, die dieser Planet jemals gesehen hat.

Aber unter der Oberfläche lauert das Grauen. Die körperoptimierten SUV-Mütter aus den Villen und die fehlernährten Weiber aus den "Brennpunkten", die Models und die Messies, die abwesenden Väter und die anwesenden Erzeuger legen uns eine Brut von Monstern in die Nester: Verantwortungslose, empathiegestörte, egozentrische Wesen, immer mit einem Bein in der Täterschaft statt in der vorschriftsmäßigen Opferbetreuung.

Die Grenzen sind fließend. Wie üblich werden die Schlimmen, die Schrecklichen, die Verworfenen und Gefährlichen umso häufiger und bedrohlicher, je weiter entfernt und je fremder sie sind. "Bulgarische Roma" aus "verwahrlosten Wohnungen" von Sozialhilfe erschleichenden Großfamilien sind definitiv das Schlimmste, was Kinder sein können. Die Deutschen spenden gern ein paar Altkleider für die Müll sammelnden Kinder aus Pakistan und geben fast unbeschränkt viele Likes dafür ab, dass die Kinderarbeit in Mexiko endlich gestoppt werden möge. Sie sind auch sehr traurig darüber, dass Donald Trump nicht genügend analphabetische Großfamilien und verwahrloste Kinder in die USA hineinlassen will. Es ist also alles gut. Nur die bulgarischen Roma-Clans mit ihren Horden von nicht sozialisierbaren Bälgern müssen weg. "Kinder statt Inder!", rief einst der König von Mülheim an der Ruhr. Da hatte er die Rechnung ohne die indischen Kinder gemacht. "Bild" hat ein paar Fotoreporter nach Mülheim geschickt, um die Monster vor Schulen, Ämtern und Gerichten abzulichten und uns unter Beachtung ihres Persönlichkeitsschutzes zu zeigen.

Fast niemand, der heute Strafmündigkeit ab zwölf fordert, hat vertiefte Ahnung davon, über was er spricht. Die meisten Medienkonsumenten stellen sich, ganz schlicht, eine Ausweitung von "harter" Strafe nach unten vor: Damit einmal eine Grenze gesetzt wird, damit die Kerle endlich mal lernen, wo der Hammer hängt; weil Nachsicht nichts bewirkt, Freundlichkeit nichts nützt und Nachgiebigkeit weiteren Kontrollverlust bewirkt.

Nicht alle diese Argumente sind rundum falsch! Sie werden allerdings vielfach völlig überzogen, verzerrt und überdies einseitig verdreht. Die meisten, die heute "hartes Durchgreifen" und "konsequente Kontrollen" der Jugendämter fordern, würden sich morgen zu Demonstrationen und Entrüstungsstürmen zusammenrotten, wenn das Jugendamt einmal wöchentlich bei ihnen selbst vor der Tür stehen und die Kinderzimmer, die Computer und die familiäre Kommunikation kontrollieren würde. Auch die Väter und Mütter der Schulschwänzer von Mainz bekämen gewiss Sendezeit bei RTL oder sonst wo, um die schreckliche Diskriminierung durch "das Amt" anzuprangern, die ihnen widerfährt.

So ist, wie meistens in der Wirklichkeit, mal wieder alles nicht so einfach. Wenn man einfach nur mal zehn Minuten mit "gesundem Menschenverstand" nachdenken müsste, um die Probleme der Jugendkriminalität zu lösen, gäbe es sie ja nicht. Entgegen verbreiteter Ansicht arbeiten bei Jugendämtern, Staatsanwaltschaften, Gerichten, Beratungsstellen und vielen anderen Stellen einschließlich der Polizei keineswegs nur Dummköpfe oder Menschen, die selbst auf das Nächstliegende nicht kommen (wollen). "Strafrecht" für Zwölfjährige (warum dann eigentlich nicht für Zehn- oder Achtjährige?) und "geschlossene Heime" (also Kinder-JVA) könnten ohne Zweifel manche Probleme lösen oder mindern. Andere Probleme würden sie allerdings verstärken oder erst schaffen.

Ein jeder mag einmal kurz darüber nachdenken, wie er oder sie selbst mit 11, 12 oder 13 Jahren "drauf" war, was er oder sie gedacht, gefühlt, gemacht hat. Jeder, der vor 30 oder 50 Jahren auf dem Klo oder hinterm Sportplatz sein Schwänzchen vorgezeigt, auf dem Pausenhof ein Mädchen an die Brust gefasst oder jemals einem anderen Kind etwas mit Gewalt weggenommen hat, sollte wissen, dass das teilweise schon damals, jedenfalls aber heute mit Freiheitsstrafe bis zu fünf oder gar bis zu zehn Jahren bedroht ist und ihn oder sie für lange Zeit in Dateien für "gefährliche Täter" hätte bringen können. Die Eltern aller Klassenkameraden hätten heute ein Recht darauf, sofort informiert zu werden, und ein Wechsel der Schule wäre im Interesse aller Beteiligten sicher angemessen. Der Vater sollte dann schon aus Rücksicht auf die Eltern seiner kleinen Patienten nicht weiter als Kinderarzt im städtischen Krankenhaus arbeiten, und die Mutter hätte im örtlichen Gymnasialkollegium auch nicht mehr viele Freunde. Das Leben so mancher Menschen, die sich heute über die Verrohung der Jugend erregen, wäre ganz anders verlaufen, wenn man sie - zu Recht! - mit zwölf Jahren als "Intensivtäter" identifiziert hätte.

Gegen "den mutmaßlichen Haupttäter" der Tat von Mülheim (deren Umstände allerdings überhaupt noch nicht bekannt sind), wurde Untersuchungshaft "wegen Wiederholungsgefahr" angeordnet; in der Presse wurde darüber mit Freude berichtet. Das ist eine jedenfalls ungewöhnliche Begründung für eine U-Haft-Anordnung gegen einen so jungen Beschuldigten. Sie muss deshalb nicht falsch sein. Aber die öffentliche Freude dürfte nicht ein Verständnis des Haftrechts spiegeln, sondern das Bedürfnis nach schneller Rache. Wollen wir hoffen, dass der "Symbol"-Gehalt der Anordnung möglichst gering ist und dass der kriminogene Effekt der Effekt der Heroisierung als "Outlaw" nicht überwiegt.

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