Karl-Heinz Kurras vor Gericht "Die Legalwaffe war in gepflegtem Zustand"

Karl-Heinz Kurras mit seinem Anwalt: Deutsch-deutsche Sphinx
Foto: A3464 Rainer Jensen/ dpaDer alte Mann, den Rotkreuz-Schwester Doris resolut im Rollstuhl durch die hohen Gänge des Kriminalgerichts Moabit in Verhandlungssaal 700 schiebt, ist tadellos gekleidet. Sein dunkelblauer Anzug knittert nicht, die Krawatte ist korrekt gebunden, das grauweiße Haar ordentlich gescheitelt. "Makellos" sei sein Mandant, erklärt sein Anwalt, und in dessen 81-jährigem Leben bisher "gänzlich unbestraft".
So lächelt sich der pensionierte West-Berliner Polizeibeamte und langjährige Stasi-Spion Karl-Heinz Kurras seinen Weg durchs Blitzlichtgewitter auf die Anklagebank. Die Tiraden gegen die "Jubelpresse" verkneift er sich heute, das Reden besorgt sein Anwalt. Die letzten Meter muss Kurras laufen. Ganz langsam trippelt er die letzten Stufen in den Saal. Kurras kennt sich aus: Er stand schon öfter vor Gericht. Bestraft wurde er in der Bundesrepublik noch nie.
Doch heute geht es in Moabit nicht um jenen verhängnisvollen 2. Juni 1967, an dem Kurras dem arglosen Studenten Benno Ohnesorg eine Kugel aus seiner Dienstwaffe in den Hinterkopf jagte und damit eine ganze Generation an den Rand der Verzweiflung und Dutzende junger Menschen in den linken Terrorismus trieb. Es geht heute auch nicht um die jahrelange gedeihliche Zusammenarbeit des Karl-Heinz Kurras mit dem Ministerium für Staatsicherheit der DDR, die im Frühsommer dieses Jahres bekanntwurde und in den deutschen Feuilletons einen Historikerstreit um die Neubewertung der 68er Revolte auslöste. Denn eines stand plötzlich fest: Die Stasi und die West-Berliner Polizei hatten aus einer Hand geschossen.
Doch heute geht es bloß um einen geladenen Revolver Marke Smith & Wesson, Kaliber 38, Serienummer CP300979. Ferner um 771 Patronen und einen Totschläger. "Unerlaubter Waffenbesitz in drei Fällen" nennt das der Staatsanwalt. Geahndet wird das Vergehen mit Geldstrafe oder bis zu drei Jahren Haft.
Auf das kleine, illegale Waffenarsenal stießen Ermittler im Juni dieses Jahres bei einer Hausdurchsuchung. Drei Polizeibeamte und ein Staatsanwalt nahmen Kurras damals, kurz nach Bekanntwerden seiner Stasi-Tätigkeit, die ehemalige Dienstwaffe ab. In der hintersten Ecke des ehelichen Kleiderschranks entdeckten sie dann noch den illegalen Revolver, Munition im ganzen Haus. Den Totschläger, sorgfältig in ein braunes Lederetui eingeschlagen, entdeckten die Beamten in der Nähe der Eingangstür. Woher die Waffen stammen, ist nicht bekannt. Der Revolver stamme vermutlich aus den sechziger Jahren, gibt später ein Polizeibeamter zu Protokoll.
"Relikt aus der aktiven Zeit als Sportschütze"
Ein Faible für Schießgeräte aller Art hatte Kurras offenbar schon immer. Im Dezember 1946 verhaftete ihn die sowjetische Geheimpolizei, weil er sich auch als SED-Mitglied von alten Wehrmachtswaffen nicht trennen wollte. Zehn Jahre Haft im berüchtigten Speziallager Sachsenhausen brachte ihm das ein, 1950 kam er vorzeitig frei. Als Belohnung für seine späteren Spionagedienste in den sechziger Jahren, so vermerkten seine Stasi-Führungsoffiziere später in den Akten, habe sich Kurras auch schon mal eine besondere Pistole gewünscht und sich stets seiner Treffsicherheit als Schütze gerühmt.
Das war früher. Nun zittert im Gerichtsaal seine Hand, als er die vom Anwalt vorgetragene Erklärung zur Anklage unterschreibt. Eine "große Dummheit" sei es gewesen, den Revolver und den Totschläger zu Hause aufzubewahren. Die Sache sei aber harmlos, nur ein "Relikt aus der aktiven Zeit als Sportschütze". Ansonsten werde sein Mandant "heute keine Fragen beantworten".
Stattdessen listet der Verteidiger die körperlichen Gebrechen seines Klienten auf: Kurras höre schwer, der Angeklagte verfolgt das Verfahren per Kopfhörer. Er könne kaum noch laufen. Wenn ihn seine 77-jährige Frau frage, was er gestern zu Mittag gegessen habe, wisse er das nicht mehr. Kurras leide unter Schwindelanfällen und könne nicht einmal seinem Anwalt mehr die Hand geben. Das alles rühre von einem Sturz vom 30. Dezember 2008, nach dem sein Mandant sogar in der Berliner Charité operiert werden musste.
Kurras gibt heute den Gebrechlichen, nicht die böse, deutsch-deutsche Sphinx, für die ihn manche halten.
"Bitte mal eine Rettungsgasse freimachen!"
"Die Legalwaffe war in einem gepflegten Zustand", erinnert sich ein Polizeibeamter, der im Juni Kurras' Wohnung durchforstete. Am Ende wird der Angeklagte zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt - auf Bewährung. Sein Anwalt wird noch am selben Tag Berufung einlegen, er hält das Urteil für "völlig unangemessen".
Für Karl-Heinz Kurras war der Termin in Moabit womöglich nur der Auftakt für weitere Verfahren. Die Bundesanwaltschaft hat ihn kürzlich wegen seiner Zuträgerdienste für die Stasi vernommen, eine Anklage wegen Landesverrats gilt als nicht unwahrscheinlich. Der Berliner Generalstaatsanwalt prüft eine Neuauflage des Prozesses um den gewaltsamen Tod von Benno Ohnesorg.
Gegen Mittag rollt Schwester Doris den alten Mann aus dem Blickfeld der Kameras. "Bitte mal eine Rettungsgasse freimachen!" ruft sie. Kurras lächelt nicht mehr. Er stiert stumm die braunen Wände an und lässt sich zum Fahrstuhl bugsieren. Zum Mittagessen müsste er rechtzeitig wieder in seiner Spandauer Wohnung sein.
Wer um zehn Uhr in Saal Nummer 700 gegangen ist, um diesen rechtslinksradikalen Phänomen namens Karl Heinz Kurras ein bisschen mehr auf die Spur zu kommen, verlässt das Kriminalgericht zwei Stunden später nicht schlauer. Aber der alte Mann im Rollstuhl, der seine Waffen liebte und vor 42 Jahren einen Unschuldigen getötet und die Republik an den Rand des Wahnsinns geballert hat, bestätigt in seinem makellosen, billigen blauen Anzug zumindest das, was wir schon ahnten: Das Böse ist banal. Und es zeigt sich bis heute immer wieder gerne in Berlin.