
Katholische Kirche Lügende Päpste, ehrliche Welt


Zahlreiche strafbare und nicht strafbare sexuell motivierte Pflichtverletzungen von Klerikern sind in der katholischen Kirche verschwiegen, vertuscht, übersehen, nicht sanktioniert worden
Foto: Christian Ohde / IMAGOGutachtung
Die Welt ist erschüttert. Eine Rechtsanwaltskanzlei aus München hat offenbart, dass es im Bezirk der Erzdiözese München und Freising zwischen 1945 und 2019 sexuellen Missbrauch an etwa 490 Opfern durch ungefähr 240 katholische Kleriker gegeben habe. Ob die in dem Bericht als solche gezählten Personen allesamt Täter oder nur Verdächtige waren, und ob alle Opfer auch tatsächlich solche waren, weiß man wie fast immer nicht, denn die Kanzlei der Aufklärer besteht nicht aus Hellsehern und noch nicht einmal aus Staatsanwälten. 50 Jahre alte Tatvorwürfe gegen Verstorbene kann man auch mit größter Entschlossenheit leider nicht restlos aufklären. Aber man kann sich ja mal bemühen: Im Kapitel »Empfehlungen« listen die Gutachter hoffnungsvoll auf: »Bildung eines Gutachterpools«.
Gewiss ist nichts dagegen einzuwenden, wenn Juristen Rechtsgutachten erstatten. Der Deutsche Anwaltverein kennt noch keine Spezialisierung als »Fachanwalt für Missbrauchsaufarbeitung«; daher kann es eigentlich jeder machen. Wichtig ist natürlich, dass die Untersuchung »unabhängig« ist. Das ist, so meinen manche, dadurch garantiert, dass nach § 1 der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) der Rechtsanwalt ein unabhängiges Organ der Rechtspflege ist. Mandanten und andere Rechtsunterworfene sehen das meist anders und werden hierbei von § 43a BRAO (»Der Rechtsanwalt darf keine widerstreitenden Interessen vertreten«) und § 356 StGB (»Parteiverrat«) gestützt: Rechtsanwälte sind Interessenvertreter. Wenn eine Behörde eine Untersuchung über die Pflichtverletzungen ihrer Bediensteten in Auftrag gibt oder ein Unternehmen eine interne Untersuchung von Untreuefällen, würde keiner der Beamten oder Bediensteten auf die Idee kommen, die ihn im Auftrag der Arbeitgeberin vernehmenden Anwälte seien unabhängig und neutral wie ein staatliches Gericht und deshalb auch auf seiner Seite.
Bei der katholischen Kirche, einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, scheint das auf wundersame Weise anders zu sein. Der Dienstvorgesetzte der Münchner und Freisinger Kleriker hat am 3. Februar in der »Süddeutschen Zeitung« solchen Untergebenen eine scharfe Rüge erteilt, die es wagen, sich gegenüber dem von ihm auf Kosten der Diözese angeordneten Privattribunal sperrig zu zeigen. Zur Strafe, so hat er angeordnet, muss man seine Verteidigungsrede zusätzlich öffentlich halten. Dieser Aufbruch in die neue Zeit der katholischen Compliance mutet, Streaming hin oder her, vertraut feudalistisch an.
Brutalstmöglichkeit
In Einrichtungen der katholischen Kirche gab es ab 1945 (?) zahlreiche Fälle von sexuell motivierten Grenzüberschreitungen und Missbrauchstaten von Klerikern an Kindern und Jugendlichen, die ihnen zur Erziehung, zur Seelsorge oder zur Ausbildung anvertraut waren. Für viele – zum Glück längst nicht für alle – Betroffene hatten diese Übergriffe erhebliche, teilweise auch lang dauernde psychische Verletzungen zur Folge.
Fast alle Taten, die im neuen oder in alten Gutachten erwähnt sind, sind strafrechtlich erledigt: Täter sind abgeurteilt, Beschuldigte verstorben, mutmaßliche Taten verjährt. Dass dies in der Öffentlichkeit tatsächlich zur Kenntnis genommen wird, kann man bezweifeln, wenn man die Presseberichte liest, hört und sieht. Da scheint es oft, als müssten die inzwischen senilen Kaplane von 1960 und die psychisch auffälligen Dorfpfarrer aus den frühen Siebzigern nun aus Gräbern und Pflegeheimen vor Gericht geschleppt werden, auf dass Tribunale aus Beauftragten, Begutachtern, Hobbypsychiatern und Fernsehansagern entscheiden, ob sie in der Hölle der »Bild«-Seite eins braten müssen, bis der Tod eintritt.
Gern vergessen werden gute Nachrichten: Sexualstraftaten durch katholische Kleriker dürften in den letzten 25 Jahren nicht häufiger geschehen sein als Sexualstraftaten durch Mediziner oder Sozialarbeiter, Sportlehrer oder Polizeibeamte. Die Wahrscheinlichkeit, von einem schwulen Kleriker begrapscht zu werden, mag größer sein als die, Opfer eines Eisenbahnunglücks zu werden, ist aber nicht annähernd so hoch wie die, im Automobil oder an Krebs zu sterben.
Deshalb ist es bei Licht besehen wundersam, dass und wie nach der bewegenden Pressekonferenz in München zehn Tage lang Medien, Foren und Interneträume, also vermutlich auch die Gedanken der Menschen, von sich überbietenden Entsetzensschreien erfüllt waren. Bei jedem neuen »Erschüttert« und »Fassungslos«, das man aus dem Munde von Menschen lesen durfte, von denen man zum Teil schon lange nichts mehr gehört hatte, fragte man sich: War diese Person längere Zeit im Wachkoma? Hatte sie sich 20 Jahre lang in eine Eremitage zurückgezogen? Hatte man Halluzinationen, oder stand das Ergebnis nicht schon seit Monaten praktisch fest? Für den Fall, dass angesichts aktuell täglich 200 Coronatoten die Zahl von 490 Missbrauchsopfern in 75 Jahren zu wenig Erschütterung hervorruft, wurde mitgeteilt, die Dunkelziffer sei wohl ähnlich hoch wie in Frankreich. Dort schätzten Gutachter im Jahr 2000 die Zahl der Opfer seit 1950 auf 3.000. Im Oktober 2021 wurde die Zahl mittels »Hochrechnung« auf 330.000 erhöht.
Letzten Endes, so muss man sagen, sind Zahlen nur Schall & Rauch. Und nicht vergessen: Entgegen landläufiger Ansicht sind es ja gar nicht die Missbrauchstaten selbst, die immer wieder neu »aufgearbeitet« und aufgeklärt werden, sondern deren 65, 35 oder 15 Jahre zurückliegende Nichtverfolgung oder Verleugnung. Es ist zweifellos wahr: Zahlreiche strafbare und nicht strafbare sexuell motivierte Pflichtverletzungen von Klerikern sind in der katholischen Kirche verschwiegen, vertuscht, übersehen, nicht sanktioniert worden. Daran hatte allerdings auch niemand ernsthaft gezweifelt, bevor eine Rechtsanwältin aus München jüngst erzählte, dass sie selbst vor 60 Jahren eine 1a-vorbildliche Bereuerin gewesen sei. Der Geschmack der Unabhängigkeit war hier vielleicht ein wenig übersalzen. Aber auch die alten Horrorfilme schaut man ja immer wieder gern an, und vor dem Bildschirm sitzt seit 1849 der kleine Häwelmann Storm und ruft: »Mehr! Mehr!«
Seit 1945 gab es in München sieben Erzbischöfe. In dieser Zeit regierten sieben Bischöfe von Rom: Pius XII, Johannes XXIII., Paul VI., Johannes Paul I., Johannes Paul II., Benedikt XVI., Franziskus. Die Schar der Weihbischöfe, Generalvikare und Offiziale haben wir nicht gezählt, muss also hier eine Dunkelziffer bleiben. Nun musste sich einer der Genannten »entschuldigen«. Er ist bald 95 Jahre alt und hat sich, wie er sagt, beim Bestreiten einer Teilnahme an einer Sitzung vor 42 Jahren geirrt. Das hat ihm erwartungsgemäß nichts genützt. Er soll sich gefälligst noch einmal entschuldigen, und noch einmal, und dann noch einmal. Und zwar richtig!
Der derzeitige Erzbischof hatte sich, wie wir erfahren haben, in derselben Angelegenheit ebenfalls geirrt, was aber keinesfalls seine Schuld war. Sogar der Bundeskanzler irrt sich gelegentlich und vergisst innerhalb kurzer Zeit Hamburger Gespräche, die andere sich jahrzehntelang merken. Überhaupt hat schätzungsweise fast ein Prozent aller Menschen sich schon einmal geirrt, weil der Irrtum sich einfach besser anfühlte als die Wahrheit. Ich gehöre dazu, 99 Prozent der Wahrhaftigkeitsfreunde nicht.
Einige Fragen bleiben: Warum eigentlich sucht man nur an den Gewändern der Bischöfe ab 1980 und von Päpsten ab 2005 nach Spuren verdächtigen Vergessens? Hatten die Vorhergehenden keinen Anteil am strukturellen Schrecken? Möchte die schwer enttäuschte Christenheit nicht noch ein paar weitere Ehrenbürgerschaften aberkennen, Bilder von Wänden nehmen, Statuen umstürzen, Heiligen einen Widerrufsbescheid zustellen? Und wenn ja: was dann?
Schwer geschädigt ist, wie man allenthalben lesen kann, das Ansehen des Katholizismus im Allgemeinen sowie der gleichnamigen Religionsgemeinschaft, von Konkordat und Kirchensteuern einmal ganz abgesehen. Die Kirche ist auf dem ungeordneten Rückmarsch an die Ränder des von München und Rom aus überschaubaren orbis terrarum, wo ihren morschen Knochen vor 500 Jahren schon einmal frisches Leben eingehaucht wurde angesichts neuer Herausforderungen durch viele Heidenkinder.
Botschaften
Die Frage ist ja letzten Endes, wie stets: Was sagt uns das und was soll man daraus lernen? Es geht hier einmal mehr um die Erkenntnis, dass die Welt nicht vom Himmel, sondern der Himmel aus der Welt fällt. Anders gesagt: Die Menschen haben seit einer Million Jahren genau die Geister, Götter, Heiligen, Priester und Philosophen, die sie brauchen. Wessen Gott auf einer nebelverhangenen Bergspitze lebt, ist sicher kein indigener Mecklenburger, und in der Wüste wohnt der Teufel nicht im dunklen Wald.
Wenn man die Gedanken, Meinungen, Einstellungen und Ethiken der Menschen verstehen will, sollte man daher nicht vor allem auf die sogenannten Narrative ihrer Moral schauen, sondern auf die tatsächlichen Lebensbedingungen von deren Entstehung und Wirksamkeit. Regeln »gelten« nicht, wenn und weil sie in der Bibel oder im Bundesgesetzblatt stehen, sondern sie stehen dort, weil sie von bestimmten Menschen in bestimmten Zeiten aus bestimmten Gründen für wünschens- und befolgenswert angesehen werden. Die nördlichen Nordamerikaner, die 1865 die Sklaven befreiten, waren keine frömmeren Menschen als die südlichen, sondern hatten halt Fabriken statt Latifundien und benötigten dafür kein Arbeitsvieh, das sie im Winter durchfüttern mussten, sondern freie Verkäufer ihrer selbst.
Wenn man glaubt wie die Menschen, die vor 600 Jahren umhergingen unter der Last der Sünden, denen ihr Gott zu jeder Sekunde in das Innerste des Herzens blickte, der sie ganz und gar erkannte, alles auf immerdar aufhob, auf dass am Jüngsten Tag gerichtet werde in saecula saeculorum, dann braucht man keine Anwaltskanzleien, keine Missbrauchsgutachten und keine Bischöfe, die sich im Fernsehen für ihre Sünden entschuldigen und um Verzeihung dafür bitten, dass die Compliance suboptimal war.
Der Erzbischof von München fragte am 3. Februar in der SZ: »Was will er denn jetzt genau mit uns, mit dem Desaster, in dem wir als Kirche gerade stecken?« Mit »er« meinte er seinen Gott. Nun könnte man zurückfragen, ob die »Süddeutsche Zeitung« das Forum ist, in welchem der Allmächtige mit seinem Ebenbild darüber diskutiert, was genau jetzt gewollt ist. Diese Frage wäre aber falsch gestellt, denn was den Gott der Katholischen Kirche ausmacht, ist ja gerade die Eigenschaft, seit 2000 Jahren die Kommunikation mit diesem Planeten zu 100 Prozent in die Hände derer gelegt zu haben, die seine Antworten aus dem Echo ihrer eigenen Fragen vernehmen. Keine Stimmen kommen mehr aus Altostratus und Cumulus, keine blutigen Tränen aus steinernen Gebeten. Überall nur vergessliche Menschen. Der Mensch sei zwar nicht gottgleich, so hat der Ministerpräsident des Saarlandes am 6. Februar in der »FAZ am Sonntag« zu Protokoll gegeben, aber doch immerhin sein Ebenbild. Das behauptet die Ameise auch von sich, wenn sie in den Spiegel schaut. Wenn sie sich da mal nicht irrt!
Phantomschmerz
Die Erschüttertheit über die berichteten Fälle klerikalen Missbrauchs ist zu einem erheblichen Teil vorgetäuscht. Wer sich in den vergangenen 30 Jahren nicht im Tiefschlaf befand, kann nicht ernsthaft angenommen haben, es habe keine Missbrauchsfälle und keine Verleugnung gegeben. Denn das wäre ja nun wahrhaftig ein Wunder der Soziologie. Selbstverständlich wurden sexuell motivierte Grenzüberschreitungen und Gewalthandlungen in der katholischen Kirche zulasten der Tatopfer vertuscht, diese vielfach gedemütigt, missachtet und zusätzlich ausgegrenzt. Genauso wie in der evangelischen Kirche, den anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften, den Schulen, Kindergärten, Vereinen. Und ganz besonders den Familien.
Die demonstrative Betroffenheit über die Tatsache des jahrzehntelangen Verschweigens und Vertuschens ist weithin heuchlerisch. Dieselben Menschen, die die sofortige Ausstoßung aller »Zeitgeist«-Verharmloser aus der menschlichen Gemeinschaft fordern, zerschmelzen vor Rührung über den Zeitgeist, der sie selbst oder ihre lieben Eltern vor 40 oder 60 Jahren antrieb. »Schonungslos« bis auf die letzte Träne sind nun die Masturbationen in den Beichtstühlen des Jahres 1967 aufzuklären, des Summer of Love! Warum müssen eigentlich nicht allen Bildungsministern nachträglich die Pensionen gekürzt und die Festschriften verbrannt werden, in deren Regierungszeit Millionen Kinder in Schulen geschlagen wurden?
Nicht dass wir uns missverstehen: Das »System des Verleugnens« und Vertuschens, das gern »strukturell« genannt wird, ohne zu erklären, was damit gemeint ist, existierte ohne Zweifel. Es existierte allerdings für die »Strukturen« der ganzen Gesellschaft – was denn sonst? Man kann nicht ernsthaft glauben, die von schwulen, heterosexuellen oder pädophilen Priestern ausgenutzten Kinder und Jugendlichen hätten die Übergriffe nur deshalb nicht oder vergebens skandalisiert, weil das dunkle Schreckenslabyrinth der Pfarrer ganz geheim unterhalb einer hellen Welt von Zugewandtheit und Ermutigung existierte. Oder dass die Tatopfer allein blieben, obgleich sie zu Hause, in der Schule, in der sozialen Umgebung geborgen waren. Das Gegenteil ist wahr. Gewiss: Eine Menge Vertuscher und Verleugner sitzen und saßen in frommen Heuchelgremien. Die bei Weitem meisten saßen allerdings seit jeher daheim auf dem Sofa und schwadronierten über die Verderbtheit der jeweils anderen.
Woher also kommt der Aufregungsfaktor? Warum werden für Millionen von Euro Wahrheiten von vor 30 oder 50 Jahren enthüllt, die jeder schon kennt? Und vor allem: Was soll passieren, wenn die sogenannte »Aufarbeitung« beendet ist? Sie sei, so hört man, »nur der Anfang«. Frage: von was? Die Antwort, es dürfe sich »nicht wiederholen«, ist Unsinn. Wer will, dass sich Missbrauch und Erniedrigung von Kindern nicht wiederholen, muss in die Flüchtlingslager und Elendsviertel der Welt gehen und nicht auf den Petersplatz.
Sicher werden sich Berufene finden, die das Aufklären und stellvertretende Leiden ad infinitum gegen angemessenes Entgelt gern übernehmen. Die Bischofskonferenz hat vorerst eine Liste der Bistümer veröffentlicht, in denen noch kein Begutachtungsteam erforscht hat, ob es auch dort vielleicht Fälle von Vertuschung und pflichtvergessene Brüder gab. Bevor nicht jede Stadt mindestens drei hauptamtlich unabhängige Beauftragte hat, ist ein Ende der rückwirkenden Compliance nicht in Sicht.
Aber die Wut, die Verachtung, die Verdammung der katholischen Kirche, die man allenthalben erlebt, haben andere Quellen als die Nacherzählung von vergilbten Akteninhalten; und auch Schadensersatzzahlungen von Dritten an Dritte sind gemeinhin nicht die Hauptsorge der Mehrheit. Wer genauer hinhört, vernimmt anderes. Das ist zum einen der Klang von in pure Aggression umformuliertem Ekel und Furcht, der typisch ist für die Kollektivemotion gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und vor allem homosexuelle Pädophilie.
Zum anderen ist es die kleinkindhafte Wut darüber, dass weitere Reste der Geborgenheit zerstieben. Was der Münchner Kardinal in seinem Interview vom 3. Februar vage als gottgesandtes »Desaster« der Moral beschrieben hat, ist in Wahrheit nur der nächste Ausbruch infantilen Hasses darauf, verlassen und verraten zu sein, allein gelassen in der leeren Welt.
Nicht dass dies 99 Prozent der hiesigen Menschen neu wäre! Seit 200 Jahren haben sie den einst Allmächtigen Stück für Stück ersetzt durch Wohlfühlprosa und Privat-Moralen: An »irgendetwas«, so formuliert es der geübte Talkshow-Gast heute, möchte man doch »glauben«, außer an den Leitzins und den eigenen Twitteraccount. Hierbei sind die Kirchen gern behilflich. Wenn die an »irgendetwas« angeblich Glaubenden ernsthaft für möglich hielten, dass es eine alles wissende Macht gibt, von welcher ihre Existenz und Ewigkeit abhängt, so würden sie sich vor den Kirchen drängen und nicht vor Beauty Shops.
Es ist die Wiederholung eines bekannten Stücks: Wenn sich herausstellt, dass der allmächtige Vater ein normaler Teil-Versager ist und die unermessliche Mutter hauptberuflich eine egozentrische Intrigantin, sind Zorn und Trauer groß. Die Erkenntnis, dass das Leben zum Tod führt und zuvor eine Phase des Erwachsenseins einschließen sollte, erspart sich der hiesige Mensch gern. Wenn er entdeckt, dass auch unter dem Wohlfühl-Mäntelchen ein gieriges Geschlechtsteil wohnt und Lukas der Lokomotivführer ein Kindermissbraucher ist, kennt die Wut keine Grenzen.
Mit der Kirche ist es also wie mit allen anderen Strukturen der Außenleitung und der machtvollen Geborgenheit, die in der Globalisierung dahingeschmolzen sind. Aus Gemeinschaften wurden Einzelne, aus Verantwortung Selbstoptimierung, aus Außenleitung Orientierungslosigkeit. Aus der Gemeinschaft der Gottesfürchtigen wurde erst eine kuschelige Gruppentherapie und dann eine Individual-Wellness on demand. Diese Befreiung kann man für das Ende der Geschichte halten oder auch nicht. Sich ratlos zu empören aber ist unintelligent. Der Phantomschmerz ist zweifellos heftig. Heilung versprechen nicht rückwirkende Abrechnungen mit längst besiegten Feinden, sondern ernsthafte Anstrengungen um neue Strukturen und Institutionen des Vertrauens. Aus Identitäts-Gesäusel oder der Erfindung immer neuer Lifestyle- und Geschlechts-Fantasien werden sie nicht kommen. In Berlin, so hört man, gibt es ein »Heimat«-Ministerium.