Kindermorde Wahlloser Täter ohne Profil
Stade - Manchmal werden schon am ersten Tag eines spektakulären Prozesses die entscheidenden Weichen gestellt.
Im Strafverfahren vor der 2. Großen Strafkammer des Landgerichts Stade gegen den 31 Jahre alten arbeitslosen Installateur Marc Hoffmann, dem die Staatsanwaltschaft vorwirft, die Kinder Levke und Felix ermordet zu haben, erkundigte sich der psychiatrische Sachverständige Norbert Leygraf nach dem Kindersitz, der sich in Hoffmanns Auto auf der Rückbank befand, als der Wagen von der Polizei untersucht wurde. Denn in dieses Auto hatte der Angeklagte die Kinder gelockt. Nein, sagte der Polizeibeamte, der nach dem Verschwinden von Levke am 6. Mai vorigen Jahres an den Ermittlungen beteiligt war, der Rücksitz sei ihm nicht aufgefallen, denn Hoffmann habe schließlich eine zwei- oder dreijährige kleine Tochter. Da sei es doch normal, wenn sich im Auto ein Kindersitz befinde.
Hoffmann, ein aufgeschwemmt und weichlich wirkender Mann, hat heute über seine Anwälte ein Geständnis abgegeben: Er gebe die ihm vorgeworfenen Taten in vollem Umfang zu. "Herr Hoffmann steht vor den Taten mit einigem Entsetzen", fügt der vortragende Verteidiger eilig hinzu. Offenbar hatte man vergessen, ein Wort der Reue dem Geständnis hinzuzufügen.
Laut Anklage lockte Hoffmann die achtjährige Levke, die auf der Straße vor ihrem Elternhaus in Cuxhaven-Altenwalde auf ihren Vater wartete - sie hatte den Schlüssel in der Schule vergessen - gegen Mittag in sein Auto. Ihrer Mama sei "etwas Schlimmes" zugestoßen. Das Kind stieg arglos in den Wagen und setzte sich auf die Rückbank. Jacke und den Schulranzen deponierte Hoffmann auf dem Beifahrersitz. Später, nachdem er mit Levke erst auf die Autobahn, dann durch kleinere Ortschaften gefahren war, ehe er in einen Waldweg bei Neuenwalde einbog und anhielt, habe er sich zu dem Kind auf die Rückbank gesetzt.
Wo war da der Kindersitz? Sollte Hoffmann ihn schon vor der Entführung Levkes entfernt haben - um im Fond sexuelle Handlungen an oder mit einem Opfer vornehmen zu können - , dann wird sein Wunsch, "in jeder erdenklichen Weise psychologisch und medizinisch behandelt zu werden, damit sich solche Ereignisse nicht wiederholen", kaum erfüllt werden. Denn Professor Leygraf, so verlautete bereits zu Prozeßbeginn, konnte beim Angeklagten keine derart schwere seelische Störung feststellen, die eine Schuldmilderung und vor allem die offenbar begehrte Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus nach sich ziehen könnte.
Hoffmann ist also vermutlich voll schuldfähig. Dass ihn ein Rausch überflutet, ein Trieb mit sich gerissen hätte, dem er sich nicht widersetzen konnte - keine Spur. Hoffmann hat es im Normalvollzug sicher nicht leicht, stehen doch Kinderschänder oder gar Kindermörder in der Knast-Hierarchie auf der untersten Stufe. Von den Mitgefangenen werden sie entsprechend be- oder vielmehr misshandelt. Daher musste Hoffmann auch von der Haftanstalt in Stade nach Oldenburg verlegt werden, weil es dort einen besonders gesicherten Bereich innerhalb der Anstalt gibt.
Hat dieser Angeklagte noch weitere Opfer auf dem Gewissen? Es wird viel spekuliert im und außerhalb des Gerichtssaales. Denn ein Mithäftling hatte behauptet, Hoffmann habe ihm weitere Taten gebeichtet. Die Vermutung liegt nahe, da die Polizei inzwischen keine neuen Erkenntnisse erlangt hat, dass entweder der Mithäftling geprahlt hat - oder Hoffmann sich, als einer der Geringsten unter den Inhaftierten, wenigstens mit der Aura extremer Gefährlichkeit schmücken wollte. Oder es steckt noch etwas anderes dahinter, wer weiß, der Prozeß hat ja gerade erst begonnen.
Etwas ratlos fragten sich Prozessbeobachter am ersten Verhandlungstag, was das Besondere an diesem Angeklagten, an dieser Tat, an diesem Strafverfahren sei. Hoffmann sieht nicht wie ein Mörder aus, ebenso wenig wie all die anderen Täter, die sich an Kindern vergingen und aus Angst vor Entdeckung töteten. Er hat laut Anklage ein Mädchen missbraucht und ein halbes Jahr später, einen Jungen - den achtjährigen Felix aus Neu-Ebersdorf im Kreis Rotenburg an der Wümme. Auch ihn griff er auf der Straße auf mit dem Hinweis, bei ihm zu Hause sei "etwas vorgefallen".
Ob es ihm gleichgültig war, ein Mädchen ins Auto zu zerren oder einen Jungen? Ob er den blonden Felix zunächst für ein Mädchen gehalten hat? Selten gehen Täter so wahllos vor. Auch hat er die Leiche Levkes mehrfach umgebettet. Erst verscharrte er sie in der Nähe des Tatorts. Dann holte er sie wieder in den Kofferraum, um sie im 400 Kilometer entfernten Sauerland in einem Gehölz zu verstecken. Dann fuhr er erneut zum Ablageort, weil ihm das Versteck noch immer nicht sicher genug erschien, und zog Levke tiefer in den Wald hinein. Psychiater Leygraf wird sich vermutlich auch dazu am Ende des auf sieben Tage angesetzten Verfahrens äußern.
Viel ist spekuliert worden über mögliche Versäumnisse der Polizei bei der Fahndung nach Levkes Mörder. Ihren Leichnam fand ein Pilzsammler am 23. August 2004. Hätte man nicht rascher, zumindest vor Felix' Tod, auf Hoffmann kommen können, der immerhin 1994 schon eine Anhalterin vergewaltigt und sich auch im Jahr 2000 verdächtig gemacht hatte?
Es könnte sein, dass dieser Prozess vor dem Landgericht Stade ein wenig die Begeisterung über das "Profiling" der Polizei dämpft. Denn Hoffmanns Verurteilung zu einer Bewährungsstrafe wegen Vergewaltigung und der Verdacht aus dem Jahr 2000 - da soll er eine 17 Jahre alte geistig Behinderte ins Auto gezerrt und zu fesseln versucht haben -, ließen ihn als Täter zunächst ausscheiden. Sein Profil passte nicht zu den Taten. Einer, der an jungen Frauen interessiert ist - was will der mit Kindern? Mit einem Jungen?
Der Angeklagte ist im Sauerland aufgewachsen. Er soll gehänselt worden sein in der Schule wegen seiner X-Beine, weil er nur einen Hoden hat, weil er stotterte und so fort. Doch wie viele Kinder werden in der Schule gehänselt, ohne später zu einer tödlichen Gefahr für andere zu werden. Er hat, wie andere Täter dieser Art, als Kind Tiere in auffälliger Weise gequält. Er ist später ziellos mit seinem Auto durch die Gegend gefahren. War er dabei jeweils auf der Suche nach einem Opfer?
Andererseits hat er ein unauffälliges bürgerliches Leben geführt, ist verheiratet, hat zwei Töchter. Die ältere, eine Zehnjährige aus einer frühen Beziehung, lebte seit Jahren bei ihm. Er hat sie versorgt, hat gearbeitet, hat ein Familienleben geführt. An welchem Punkt kippte dieses Leben? Von wann an entwickelten sich seine düsteren Wünsche? Am Tag vor Levkes Tod habe er mit seiner Frau Streit gehabt, heißt es. Er habe sich durch Herumfahren abreagieren wollen. Das ist alles andere als eine Erklärung. Er tötete, sagt die Staatsanwaltschaft, weil die Kinder ihn verraten hätten: dass er sie zu Oralsex zwang, dass er vor ihnen onanierte. Auf das Sexuelle kam es ihm offenbar nur insoweit an, als er damit ein Gefühl der Macht über Schwächere erzeugen konnte. Alles andere hätte er sich auch auf anderem Weg besorgen können.
Auf dem Stader Kirchplatz hielten erboste Bürger Plakate hoch: "Kinderschutz vor Täterschutz" und ähnliches. Vor solchen Tätern kann man Kinder nicht schützen. Das ist zum wiederholten Mal die bittere Erkenntnis aus dem Fall "Levke und Felix".