Thomas Fischer

Kinderpornografie und Strafrecht Das Leiden der anderen

Thomas Fischer
Eine Kolumne von Thomas Fischer
In Münster wurde Kinderpornografie entdeckt. Das Publikum kann die Bilder vom Missbrauch nicht sehen, stellvertretend leiden Kommissare. Ein Empathie-Bericht.
Kind hinter Milchglastüre (Symbolbild)

Kind hinter Milchglastüre (Symbolbild)

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RinoCdZ/ Getty Images

Seelenbilder

Der Beruf des Kriminalpolizisten setzt viel voraus und verlangt viel, ist nicht gut bezahlt und oft eingeklemmt zwischen individuellem Stress, nervenaufreibender Bürokratie und Konfrontation mit widersprüchlichen Erwartungen von Menschen in Ausnahmesituationen. Nicht einfach! In der Wirklichkeit ist die Anzahl der Kommissare, die nebenbei Kriminologie oder Psychologie studiert haben, nicht so hoch wie im TV-"Tatort", allerdings auch nicht die der persönlichkeitsgestörten Partnerschaftswracks mit Autoritätstrauma und Disziplinarverfahren an der Backe. Alles also eher normal, wie es halt so ist im Leben, wo die Quote früherer Waldorfschüler unter Tanztherapeuten vermutlich einfach höher ist als im Unteroffizierscorps der Bundeswehr. Auch deshalb sollte man annehmen, dass der Beruf des Kriminalpolizisten nicht bevorzugt Menschen anzieht, die sich durch emotionale Irritierbarkeit, brüchiges Selbstbild und extreme Fantasieneigung auszeichnen. Betrachtet man die Selbstdarstellung des Berufs, wird diese Erwartung auch meist bestätigt: Eher robust und dem Handfest-Praktischen zugetan, vertraut mit Tricks und Abgründen der sogenannten Kundschaft, bei fast jedem fast alles für möglich haltend, mit einer Sicherheit vermittelnden Distanz zum eigenen Ich und zum fremden Leiden.

Daher ist es erstaunlich, bei der Pressekonferenz eines Polizeipräsidenten zu hören, die Ermittlungsarbeit einer Kommission sei "das Schlimmste" gewesen, was den Kollegen je widerfahren sei, eine grauenvolle, emotional nicht zu bewältigende Belastung. Wir hören und schaudern, wenn von Paragraf 184b StGB, der "Verbreitung kinderpornografischer Schriften", die Rede ist:

"Es geht mir darum, das Entsetzen darüber zum Ausdruck zu bringen, was geschehen ist und was meine Mitarbeiter in nur drei Wochen ermittelt haben. Selbst die erfahrensten Kriminalbeamten sind an die Grenzen des menschlich Erträglichen gestoßen und weit darüber hinaus."

Das sagte, Presseberichten zufolge, der Polizeipräsident von Münster bei der Pressekonferenz zum Ermittlungsverfahren wegen schweren sexuellen Missbrauchs und Verbreitung kinderpornografischer Schriften in Münster, und dem Leiter der mit der Ermittlung befassten Kommission, "versagte", so lesen wir, "beinahe die Stimme", als er der Presse davon berichtete, wie schlimm die entdeckten Bild- und Videodateien seien. Das ist menschlich verständlich und in der Sache vermutlich nicht fernliegend. Andererseits entspricht es nicht dem sonst gewohnten Selbstbild von Polizei und Staatsanwaltschaften bei der Verkündung von Fahndungserfolgen. Das gilt entsprechend auch für die Medienöffentlichkeit. Hier rücken zwar immer einmal wieder Betrachtungen über die imaginierte Innenwelt von Ermittlern ins Blickfeld; aber eine allgemeine Klage über die schreckliche Belastung, sich beruflich tagein, tagaus mit Terrordrohungen, Holocaustleugnungen, um ihre Ersparnisse geprellten Rentnern oder Mordmotiven befassen zu müssen, findet sich selten. Anders bei der Kinderpornografie. Da fragt etwa "Bild" am 6. Juni:

"Wie kommen die Ermittlungsbeamten und -beamtinnen, die selbst Väter und Mütter sind, mit diesen Eindrücken zurecht? … Wer macht sich Gedanken über die Männer und die Frauen bei der Polizei, die Hunderte von Terabytes auswerten müssen von diesem abscheulichen Dreck?"

Die Antwort gibt die Zeitung gleich selbst: Wir tun es. Dass die Beamten auch "Väter und Mütter" sind,  ist richtig. Sie sind allerdings auch alles andere, was Menschen in der Gesellschaft außerhalb ihrer Berufsrolle sind. Trotzdem verzweifeln sie nicht schon deshalb am Einbruch, weil sie selbst in Wohnungen leben, und nicht am Totschlag, weil sie selbst Freunde und Verwandte haben. Der Topos vom Ermittler, der an den Beweisstücken des Kindesmissbrauchs leidet, ist aber weitverbreitet und dient auch im professionellen Umfeld von Polizeiführungen und Interessenvertretungen als moralisch unangreifbares Argument für ganz unterschiedliche Anliegen.

"Der Chef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), Sebastian Fiedler, erklärte …, die Polizei stoße personell oft an die Grenzen. … Fiedler spricht von einem großen Dunkelfeld und geht davon aus, dass mindestens 100 Kinder täglich Opfer von sexuellem Missbrauch werden." (ARD-"Morgenmagazin", 9. Juni 2020) 

Das ist auch insoweit etwas irritierend, als man es im Zusammenhang mit anderen Straftaten nicht so und jedenfalls nicht in diesem Maß gewohnt ist. Man liest selten darüber, wie schrecklich es ist, Zeugenvernehmungen von misshandelten oder vergewaltigten Menschen durchzuführen, und die Fernsehkrimis signalisieren dem Zuschauer nicht, dass es grauenvoll sei, im Morddezernat zu arbeiten, sondern zeigen im Gegenteil, dass dies eine erfüllende und oft lustige Tätigkeit sei, wo zwischen Sektionstisch und "SpuSi" so manche Currywurst gegessen und so manches Bierchen gezischt wird. Das bedeutet natürlich nicht, dass es nicht auch dort schrecklich sein kann. Aber es ist einfach viel seltener, obgleich doch hinter den mit Paragrafen bezeichneten Tatbeständen des Strafrechts oft ein berührendes, grausames, erschreckendes Geschehen steckt, Abgründe von bösem Willen und Niedertracht sich auftun und menschliches Leid in die Form gebracht werden muss, die eine Verarbeitung in den formellen Verfahren erlaubt, die das Gesetz mit guten Gründen vorschreibt. Hier stellen sich vielleicht, neben allen anderen, auch Fragen nach dem spezifischen Inhalt, der öffentlichen Wahrnehmung und der sozialen Verarbeitung. 

Vertretungen

"Focus Online" vom 8. Juni 2020 hat folgende Erwägung angestellt:

"Ob Lügde, Münster oder der Fall Maddie - angesichts der unvorstellbar grausamen Verbrechen an Kindern stellt sich die Frage: Welche Rechtsanwälte verteidigen Angeklagte, die in den Augen nicht weniger Menschen geradezu monströse Verbrechen begangenen und damit sämtliche Rechte verwirkt haben?"

Bemerkenswert ist, mit welch triumphaler Gewissheit Ermittlungsbehörden und Medien den Eltern des im Jahr 2007 verschwundenen Kindes "Maddie" seit einer Woche sagen, dass ihre Tochter erstens tot und zweitens Opfer eines "monströsen" Sexualmords geworden sei.

Abgesehen davon interessiert am Zitat zweierlei: Zum einen die Mitteilung, Täter von Verbrechen an Kindern hätten "sämtliche Rechte verwirkt", jedenfalls "in den Augen" der "nicht wenigen Menschen", deren "Fragen" das genannte Medium freundlicherweise an alle anderen weitergibt. Zum anderen die Beschreibung dessen, um was es in der Sache eigentlich geht. "Unvorstellbar grausam" und "geradezu monströs": Wer so einsteigt, hat keinen Raum mehr für Steigerungen. Die Erregung kann hier nur immer weiter beteuert werden; die Klimax ist schon mit der Überschrift erreicht. Was soll hinter "unvorstellbar" noch kommen? Was unterscheidet aktuelle Monstrosität von der letzten und vorletzten, und von der nächsten und übernächsten? Man kann einmal schreiben, beim Anblick abgerissener Gliedmaßen oder verfaulter Leichen sei den Mitarbeitern der Mordkommission furchtbar übel geworden. Es bei der nächsten Leiche wieder zu schreiben, wäre aber eher kindisch. 

Interessant die Bilder der Bilder. Das Publikum, auch die Presse, kennt die Dateien ja nicht, um die es geht. Es ist verboten, sie anzuschauen, und mit gutem Grund werden sie von den Ermittlungsbehörden nicht vorgezeigt. Wenn also ihr Inhalt als grauenvoll, schrecklich, furchtbar, "das Schlimmste" und so weiter beschrieben wird, sind das nur sprachliche Attribute, durch welche die Wirklichkeit beschrieben wird. Erstaunlich ist, dass die Öffentlichkeit sich damit zufriedengibt. Denn eigentlich möchte man doch fragen: Was ist denn zu sehen, was so grauenvoll ist, dass dem Polizeisprecher die Stimme bricht? Auch die Antwort hierauf wären nur Worte, nicht wirkliche Bilder, und in einer Welt, in der immerzu alle einfach alles fragen, wissen, erfahren, beurteilen möchten, erstaunt der Gleichmut sehr, mit dem praktisch 100 Prozent der Menschen, die sich über die Monstrosität von Bildern erregen, auf jede Kenntnisnahme dieser Objekte verzichten. Das gilt auch für Journalisten und Redaktionen. Sie würden sich zu Recht weigern, den Inhalt von Dokumenten, die sie gar nicht kennen, als "unvorstellbar schlimm" zu beschreiben, nur weil ihnen ein Beamter gesagt hat, so sei das.    

Direkt gefragt: Was meinen Sie denn, verehrte Leser, was auf den sichergestellten Videoaufnahmen zu sehen ist? Welche "unvorstellbaren" Verbrechen stellen Sie sich konkret vor?  Und zu fragen ist auch: Wie kommen Sie eigentlich darauf? Irgendwoher müssen die Bilder ja in die Köpfe kommen, bevor sie sich in Ekel und Gewaltfantasie nach außen und gegen die mutmaßlichen Täter kehren. 

Warum hört man eigentlich so selten über das Schreckliche und Menschenverachtende der "normalen" Pornografie, die bekanntlich auch hierzulande in außerordentlichem Umfang konsumiert wird? Warum lesen wir nichts über die Traumata von Mitarbeitern der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften? Wieso ekelt sich die Presse nicht in riesigen Buchstaben über Splatterfilme, Gewalt- und Tierpornografie, Vernichtungsorgien mit Maschinenwaffen im "Blockbuster"-Kino?

"11 Festnahmen und sieben Haftbefehle wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern. Das gibt völlig unzureichend die Dimension dessen wieder, was wirklich geschehen ist - mitten unter uns, in unserer Gesellschaft. … Zu wissen, dass wir oft die Spitze des Eisbergs sehen, macht die ganze Arbeit zu einer Herkules-Aufgabe."

So wird der Polizeipräsident von Münster zitiert. Das steht stellvertretend auch für viele Kommentierungen: Das Grauen ist "mitten unter uns". Noch schlimmer: Es tarnt sich perfekt; es sieht aus wie wir. Es heißt: Nachbarschaft, Kita, Onkel und Tante, Spielplatz, Gartenlaube, Sportverein. Das ist eine beängstigende Botschaft: Die Monster, die tun, was jede Vorstellungskraft und die Fantasie der "erfahrensten Kriminalbeamten" übersteigt, sind beides: Das extreme Gegenteil von uns und zugleich perfekt als wir selbst getarnt. Aliens im Innern unserer Gartenlauben, Körper und Seelen. 

Entkommen

Was kann man tun? Innenminister Reul weiß schon wieder Bescheid: "Für mich ist sexueller Missbrauch wie Mord", gab er zu Protokoll und fügte an, die Bundesministerin der Justiz solle "aus dem Quark kommen" und tun, was die Innenminister von ihr verlangen: Sexuellen Missbrauch von Kindern schon im Grunddelikt rechtstechnisch als "Verbrechen" einstufen. Der Minister weiß vermutlich, dass das schon deshalb schräg ist, weil es mit dem Fall von Münster, soweit erkennbar, nichts zu tun hat: Dort geht es gar nicht um "einfachen" Missbrauch, und die Strafdrohung von 15 Jahren ist von der Einstufung des Grunddelikts gar nicht tangiert. Und das Haben und Anschauen von Bildern verbotener Handlungen ist nun mal nicht dasselbe wie die Handlung selbst. Sonst wären ja alle wegen Mordes einzusperren, die sich zum Beispiel Videos vom Abknallen von Zivilisten aus einem US-Hubschrauber in Bagdad oder einer "Hinrichtung" durch IS-Mörder angesehen haben.

Wer jedes Mal nach einem Verbrechen schreit, Unvorstellbares sei geschehen und werde von jetzt an mit allen Mitteln verhindert, hat beim nächsten Mal ein Problem. Das Versprechen aller Polizeiminister dieser Welt, dass schon bald niemand mehr getötet, missbraucht, beraubt oder betrogen werde, hat sich in den letzten zweitausend Jahren als überaus unzuverlässig erwiesen. Das ändert leider nichts daran, dass jedes Mal aufs Neue immer dieselben nutzlosen Sofortmaßnahmen gefordert werden von Menschen, die sich mit der kriminologischen Wirklichkeit gar nicht befassen wollen und zufrieden damit sind, das Optimale zu wollen - als ob irgendjemand es nicht wollte.

Wenn man verhindern will, dass irgendeine Gartenlaube in Deutschland zum Ort eines Verbrechens oder zum Lagerplatz für Pornografie wird, muss man alle Gartenlauben jeden Tag durchsuchen. Dazu jedes Haus, jeden Keller, jedes Kinderzimmer, jeden Campingbus, jeden Computer und jedes Handy. Man darf niemandem mehr irgendetwas glauben; man muss alle potenziell gefährdeten Menschen, Rechtsgüter und Lagen permanent überwachen, filmen, befragen, analysieren, beobachten. Und man muss alle Personen, die damit befasst sind, selbst auch überwachen, denn selbstverständlich konsumieren auch Polizisten Kinderpornografie und missbrauchen Kinder, ebenso wie Ärzte, Richter, Psychologen, Betreuerinnen, Lehrer. Und selbst wenn wir alle diese Maßnahmen ergriffen, hätten wir nur einen Bereich der Sicherheit unter Kontrolle. Es gibt aber auch viele andere.

Das zu sagen, soll nicht das Schutzbedürfnis ad absurdum führen oder infrage stellen, sondern nur die überzogenen Forderungen beispielhaft zu Ende denken. Das zeigt, dass es so nicht geht. Niemand würde so leben wollen, dass nichts passieren kann. Wir können einander nicht permanent in die Köpfe und Gehirne schauen und das Böse schon im Voraus erkennen.

Die extremen Reaktionen emotionaler Art, die Taten des sexuellen Missbrauchs und der Kinderpornografie (inzwischen) hervorrufen, sind nicht einfach "normal" und selbstverständlich, sondern spiegeln Verhältnisse in den Einzelnen und der Gesellschaft. Dazu gehört auch das Phänomen, dass diese extreme Ablehnung, der geradezu vernichtende Ekel, der bekundet wird, mit der Behauptung einhergeht, nicht genau zu wissen und sich auch "gar nicht vorstellen" zu wollen, welches "grauenvolle" Geschehen überhaupt gemeint ist. Stellvertretend für das Publikum ekeln sich dann die Ermittler und werden ihrerseits zu Opfern der eigenen Beweismittel erklärt. Das Publikum wird aufgefordert, Mitgefühl mit Polizisten und Staatsanwälten zu haben, die Straftaten aufklären. Die Bilder der sekundären Opfer verdrängen fast die der realen. Da ist es nicht weit bis zur Aussage, eigentlich sei jeder ein Opfer, der sich die fremden Taten nur schlimm genug vorstelle. Damit wäre man dann auf einem psychisch sehr schmalen Grat angelangt.

Die statistische Anzahl von Taten des Verbreitens von Kinderpornografie ist gestiegen. Das ist banal und selbstverständlich, denn die technischen Möglichkeiten haben sich in 25 Jahren vertausendfacht. Die Anzahl realer Missbrauchstaten ist schwerer zu beurteilen. Woher der BDK die Zahl "hundert pro Tag" nimmt, weiß ich nicht. Vieles spricht dafür, dass sich die Zahl kontinuierlich verringert hat: Das Anzeigeverhalten hat sich stark verändert; viele Taten kommen nur durch Auffinden von Bildspuren in die Statistik; die Sensibilität für die Taten selbst ist gegenüber früheren Zeiten stark erhöht. Trotz einer geradezu panisch wirkenden Aufmerksamkeit für dieses Kriminalitätsfeld gibt es aber auch weiße Flecken: "Missbrauch" ist stark auf explizit genitales sexuelles Geschehen fokussiert; missbrauchendes Verhalten durch Frauen wird nur thematisiert, wenn es hiermit - und mit Taten von Männern - in Zusammenhang steht. Mit diesem Hinweis soll nicht erneut eine Ausweitung angeregt werden. Er zeigt aber, dass es Anlass gibt, sich mit Fragen auch hinter formelhaften Reflexen zu befassen.

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