Ausgebranntes Polizeiauto in Tottenham: Beginn der Krawalle am vergangenen Samstag
Foto: LEON NEAL/ AFPLondon - In England herrscht Aufruhr: ausgebrannte Häuser, geplünderte Läden, viele Verletzte - und das in der dritten Nacht in Folge. Die Ausschreitungen haben mittlerweile von London auf andere Städte des Landes übergegriffen. Hunderte Menschen, meist Jugendliche, wurden in Gewahrsam genommen. Die Polizei ist an ihrer Belastungsgrenze angekommen, Premierminister David Cameron kehrte vorzeitig aus dem Urlaub zurück und kündigte an, die Einsatzkräfte in der Hauptstadt massiv aufzustocken.
Der Ausgangspunkt dieser gewalttätigen Auseinandersetzungen liegt im Londoner Problemviertel Tottenham - und fünf Tage zurück: ein Polizeieinsatz am vergangenen Donnerstag, an dessen Ende ein 29-Jähriger von einer Polizeikugel getötet wurde. Die Details des Vorfalls, bei dem Mark Duggan starb, sind noch weitgehend ungeklärt.
Es habe sich um einen Einsatz bei Ermittlungen zur organisierten Bandenkriminalität gehandelt, teilte die Londoner Polizei umgehend mit. Den anfänglichen Darstellungen der Ermittler zufolge habe Duggan, ein vierfacher Vater, zuerst gefeuert. Ein Polizist überlebte demnach nur durch Glück, weil die Kugel des in einem Taxi sitzenden Schützen vom Funkgerät des Beamten aufgehalten worden war. Die Kugel wurde zunächst als Beweis dafür gewertet, dass Duggan, ein dunkelhäutiger Mann, tatsächlich geschossen hat.
Kugel aus Polizeiwaffe?
Doch laut "Guardian" haben erste ballistische Untersuchungen ergeben, dass die Kugel in dem Funkgerät aus einer Polizeiwaffe stammen soll. Zudem sagte einer der an dem Einsatz beteiligten Polizisten dem TV-Sender Sky, er habe nie behauptet, Duggan hätte auf ihn geschossen. Vielmehr habe er abgedrückt, weil er sich durch eine Waffe bedroht gefühlt habe.
Am Tatort wurde eine Handfeuerwaffe gefunden, die nicht zu den Beständen der Polizei gehört. Sie sei funktionsfähig gewesen, teilte eine unabhängige Untersuchungskommission am Dienstag laut "Daily Telegraph" mit. Die Kommission bestätigte ansonsten lediglich, dass Duggan von einer einzelnen Kugel getötet wurde. Sie kündigte ausführlichere forensische Untersuchungen an, die bis zu sechs Monate dauern könnten.
Bereits kurz nach Duggans Tod hatten Zweifel an der Polizeiversion des Vorfalls in Tottenham die Runde gemacht. Laut "Guardian" warnten außerdem mehrere Bewohner des Stadtteils die Polizei vor möglichen Gewaltausbrüchen - auch weil sich offenbar viele Menschen mangelhaft über den Vorfall informiert fühlten.
"48 Stunden lang den Dialog verweigern"
Am späten Samstagnachmittag hatten sich rund hundert Personen mit der Familie des Verstorbenen zu einer friedlichen Demonstration vor der Polizeiwache in Tottenham versammelt. Die Menge forderte eine Erklärung von der Polizei. "Wenn ein Beamter gekommen wäre und mit uns geredet hätte, wären wir gegangen", sagte der Tottenhamer Sozialarbeiter Stafford Scott dem "Guardian". Doch die Polizei habe nicht reagiert - für Scott ein Fehler, der vor allem in einem Problemviertel wie Tottenham unverzeihlich sei: "Bei unserem Hintergrund kannst du keinen Typen von der Polizei erschießen lassen und 48 Stunden lang den Dialog verweigern."
Etwas mehr als zehn Kilometer von der Londoner Innenstadt entfernt, zählt Tottenham zu den ärmsten Gegenden Großbritanniens. Fast die Hälfte aller Kinder lebt hier Untersuchungen zufolge in Armut. Der Anteil der Ausländer zählt zu den höchsten im ganzen Land.
Die bislang schlimmsten Ausschreitungen brachen im Jahr 1985 aus, nachdem eine Frau während einer Razzia der Polizei in ihrem Haus an einem Schlaganfall starb. Ein Polizist, der eine Gruppe Feuerwehrmänner schützen wollte, wurde damals von einem wütenden Mob zu Tode geprügelt. Etwa 60 weitere Beamte mussten mit zum Teil schweren Verletzungen ins Krankenhaus gebracht werden.
Die Familie von Mark Duggan ließ inzwischen erklären, sie sei erschüttert über die derzeitigen Ausschreitungen, die nichts mit der Untersuchung der Todesumstände Duggans zu tun hätten.
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Großbrand in London: In der dritten Nacht in Folge kam es in der britischen Hauptstadt zu schweren Krawallen.
Vermummte wüteten in mehreren Stadtteilen. Hier zieht ein Mann einen brennenden Müllcontainer im Stadtteil Hackney.
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Brennendes Geschäft im Süd-Londoner Stadtteil Croydon: Premier Cameron hat seinen Urlaub unterbrochen.
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Ausschreitungen in Hackney: Die Jugendlichen bewerfen die Polizeibeamten mit Feuerwerkskörpern und Steinen.
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Polizeibeamter in Hackney: Die Polizei scheint ebenso wie die Feuerwehr machtlos.
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Aufräumen im Südwesten Londons: Die Feuerwehr hatte teilweise nicht mehr genügend Einsatzfahrzeuge zur Verfügung, um die Brände zu löschen.
Säuberung mit Hochdruck: Ein Mann spritzt in Hackney Wasser auf die Straße, nachdem ein Auto in Brand gesteckt wurde.
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Löscharbeiten in Ealing Green: Ein Supermarkt war hier in Brand gesetzt worden.
Brand in Ealing: Ein Lager des Elektronik-Riesen Sony ging in Flammen auf. Augenzeugen berichteten, dass sich zunächst Plünderer "bedient" hätten, ehe sie das Lager anzündeten.
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