Krebspatientin Madame Sébire darf nicht sterben
Paris - Hat Chantal Sébire Aussicht auf einen würdevollen Tod? Hat sie gar ein Recht darauf? Vor allem: Dürfen andere ihr, der Schwerstkranken und vom Krebs entstellten Frau, beim Sterben helfen?
Letzteres beschied heute ein Gericht im französischen Dijon mit einem klaren Nein: Sébires Antrag auf aktive Sterbehilfe wurde abgelehnt, teilte der Anwalt der 52-jährigen früheren Lehrerin mit.
"Das Gesetz ist unmenschlich und meine Mandantin tief enttäuscht", sagte Anwalt Gilles Antonowicz der Presse.
Sébire leidet seit acht Jahren an einer sehr seltenen und unheilbaren Tumorerkrankung, einem Ästhesioneuroblastom. Die Medizin kennt nur einige hundert Fälle weltweit. Der Krebs nahm in Sébires Nasenhöhle seinen Anfang, wucherte ins Gesicht, zerfraß ihre Nase, ihren Oberkiefer, sie erblindete. Da sie im Verlauf der Krankheit eine Morphium-Allergie entwickelte, kann sie gegen die unerträglichen Schmerzen lediglich Aspirin nehmen. Es ist ein Leben unter Qualen und Schmerzen, ein Leben, das Chantal Sébire nicht mehr will.
"Als wenn Nadelspitzen tief in die Augen stechen"
Da in Frankreich aktive Sterbehilfe verboten ist, stellte Sébire beim "Tribunal de Grande Instance" in Dijon den Antrag auf eine Ausnahmeregelung: Sie forderte für ihren Arzt das Recht, "mir eine tödliche Substanz auszuhändigen, die ich einnehme, wenn ich es für richtig halte".
Doch die Richter entschieden anders: Sébires Antrag stehe im Widerspruch zur Verpflichtung der Ärzte, Leben zu retten, und auch im Widerspruch zum Strafrecht, das Sterbehilfe unter Strafe stellt, hieß es in der Begründung.
Für Sébire ein erneuter Rückschlag in einer mittlerweile acht Jahre währenden Leidensgeschichte.
"Alles begann vor acht Jahren mit Nasenbluten", erzählte Sébire rückblickend in einem Fernsehinterview. Sébires jüngste Tochter Mathilde war damals gerade fünf Jahre alt.
Der Krebs wütete unaufhaltsam, Heilungsmöglichkeiten gibt es nicht. "Vor sechs Jahren habe ich zuerst den Geschmacks- und Geruchssinn verloren", schilderte Chantal Sébire mit ruhiger Stimme. Anschließend griff der Tumor ihren Kiefer an, fraß sich dann in die Augenhöhlen. "Im Oktober 2007 verlor ich schließlich das Augenlicht. Dazu kommen grauenhafte Schmerzen. Es fühlt sich an, als wenn Nadelspitzen tief in die Augen stechen."
Sébires Leiden: Schlimmste Schmerzen, Morphium-Allergie
"Ich bekämpfe meine Schmerzen mit einfachem Aspirin. Inzwischen habe ich keinen Oberkiefer mehr. Nur Gott weiß, wie meine restlichen Zähne noch halten. Seit acht Jahren kämpfe ich gegen die Krankheit. Ich will auf keinen Fall, dass der Tumor das letzte Wort hat."
Im Streit um Sterbehilfe stehen Sébire im katholischen Frankreich mächtige Gegner gegenüber. Da ist zum einen die Kirche, die ihren Gläubigen kategorisch jede Hilfestellung im Sterbeprozess verbietet. Auch gesetzlich ist Sterbehilfe verboten, wenn auch das Verbot vor drei Jahren etwas gelockert wurde - Ärzte dürfen immerhin lebensverlängernde Maßnahmen absetzen, wenn der Patient dies wünscht. Eine Modifikation, die Chantal Sébire nicht hilft.
Chantal Sébire wandte sich mit einem offenen Brief an Staatspräsident Nicolas Sarkozy - hatte der nicht nach seinem Wahlsieg im Mai 2007 "allen Franzosen, die vom Leben zerbrochen wurden", Hilfe und Unterstützung zugesagt?
"Monsieur le Président, helfen Sie mir zu sterben!" lautete Sébires Appell an Sarkozy, was die 52-Jährige Ende Februar endgültig zur bekanntesten Patientin Frankreichs machte.
Chantal Sébire weiß, dass ihr deformiertes Gesicht ihre stärkste und schrecklichste Waffe ist. Wenn man sie anschaut, versteht man, dass diese Frau ihr Leben nicht mehr leben möchte.
Sieben Neurochirurgen hat Chantal Sébire in den letzten Jahren aufgesucht, aber nur zwei waren überhaupt bereit, sie zu untersuchen. Beide bestätigten die unheilbare Krebserkrankung. Keine Hilfe möglich, weder mit Medikamenten noch mit Operationen oder Bestrahlung.
Die Macht der Bilder
Ihr Hausarzt Emmanuel Debost erklärte im Fernsehen, dass er die Leiden seiner Patientin "wegen der Gesetzeslage" nicht abkürzen könne. "Mein Gewissen gebietet mir, ihr zu helfen", sagte Debost, "aber ich kann keine Gefängnisstrafe riskieren."
Auch Nicolas Sarkozy meint, nicht helfen zu können. "Der Präsident ist sehr erschüttert", ließ er von einem Sprecher ausrichten. Doch Sarkozy, für den die Überzeugung von der Macht der Bilder Dreh- und Angelpunkt seiner Politik ist, wird auch angesichts der Fotos von Chantal Sébire nicht aktiv. "Er will sich nicht in die Diskussion einschalten", sagte ein Mitarbeiter.
Was die Politiker zu dem Fall sagen
Premierminister François Fillon äußerte Verständnis für den dramatischen Fall, stellte sich jedoch an die Seite seiner Ministerin. Der Regierungschef meinte, die Ärzte könnten Sébire nach einem richterlichen Nein vielleicht "ohne Wasser und Ernährung bis zum Tod in ein künstliches Koma versetzen".
Das hat Chantal Sébire sofort kategorisch abgelehnt. Sie will in Abstimmung mit ihren drei Kindern zu einem selbstgewählten Zeitpunkt bewusst aus dem Leben scheiden. "Mich betäuben zu lassen und dann den Krebs siegen zu lassen kommt nicht in Frage."
Sébires älteste Tochter Valerie, 29, ist von Beruf Krankenschwester und unterstützt ihre Mutter: "Mama ist am Ende, sie ist müde, sie kann nicht mehr." Nach dem von der Familie herbeigesehnten Tod der Mutter wird sich Valerie mit ihrem Bruder Vincent, 27, um das 13-jährige Nesthäkchen Mathilde kümmern.
Keinen Trost konnte die katholische Kirche der Familie Sébire spenden. "Kein Mensch hat das Recht, einen anderen Menschen zu töten", bekräftigte der Erzbischof von Lyon, Philipppe Barbarin, noch am gestrigen Sonntag.
Die sehr katholisch auftretende Wohnungsbauministerin Christine Boutin fühlte sich offenbar verpflichtet - trotz der thematischen Ferne des Falls Sébire zu ihrem Geschäftsbereich - Stellung zu nehmen: "Man muss dieser Frau mit dem deformierten Gesicht sagen, dass sie noch geliebt wird", sagte die Ministerin. "Wie kann man glauben, dass Sterbehilfe ein Akt der Liebe sein kann?"
Eine Erklärung, die von Chantal Sébires Kindern mit Unverständnis und Entsetzen aufgenommen wurde. Chantal Sébire reagierte am Wochenende mit einem Telefonanruf in einer TV-Sendung. "Es geht mir nicht um mein entstelltes Gesicht. Ich leide so sehr unter Schmerzen: Deshalb rufe ich um Hilfe. Madame Boutin wünsche ich zum besseren Verständnis und ohne jede Böswilligkeit 24 Stunden meines Leidens."
Zum Sterben ins Ausland
Der Abgeordnete Jean Leonetti ist der Verfasser des Gesetzes zur Einstellung lebenserhaltender Maßnahmen und gilt als Instanz in dieser schwierigen Frage. Seiner Ansicht nach erbittet "diese krebskranke Frau von der Justiz Hilfe bei einem Selbstmord", und das sei von seinem Gesetz nicht abgedeckt.
Chantal Sébire hat dem Abgeordneten sofort widersprochen. "Das ist keine Hilfe zum Selbstmord, sondern ein Akt der Liebe, für mich ein Akt der Befreiung und der Begleitung. Ich will in Würde aus dem Leben scheiden und mich nicht von dem Tumor dahinraffen lassen. Das wäre die ultimative Niederlage gegen die Krankheit."
Im September 2007 war die französische Schauspielerin Maïa Simon zum Sterben in die Schweiz gereist. Sie litt auch an Krebs und hatte vergeblich in Frankreich Sterbehilfe gesucht. Kurz vor ihrem medizinisch unterstützten Freitod gab sie ein letztes Interview. Darin griff sie ihr Heimatland wegen seiner "heuchlerischen Politik beim Thema Sterbehilfe" an.
Schon vor dem Urteil in Dijon hatte Chantal Sébrine angekündigt, wie es weiter geht, sollte das Gericht ihren Antrag ablehnen: "Wenn ich die Medikamente, die ich brauche, nicht in Frankreich bekomme, werde ich sie mir woanders holen", sagte sie kürzlich.
pad/hlo/mit Material von dpa