Kriminalität Der Bankräuber mit dem schlechten Gewissen

Heinrich Riesen überfällt eine Bank im niedersächsischen Hagen - sein erstes Delikt. Unerkannt flieht er mit der Beute. Drei Jahre lang quält ihn sein Gewissen, den Blick der Kassiererin kann er nicht vergessen. Dann stellt er sich der Polizei.
Heinrich Riesen: "Tagsüber konnte ich den Überfall verdrängen, nachts kamen die Träume"

Heinrich Riesen: "Tagsüber konnte ich den Überfall verdrängen, nachts kamen die Träume"

Foto: SPIEGEL ONLINE

Melle - Heinrich Riesens Abstieg beginnt mit einem Fünf-Mark-Stück. Es ist ein Abend im Jahr 1999, Riesen ist damals 18 Jahre alt. Wie so oft spielt er mit seinen Freunden im nordrhein-westfälischen Minden, wohin er nach seiner Ausbildung als Maler und Lackierer gezogen ist, in einer gemütlichen Kaschemme an einem der vier Tische Billard.

Als Riesen an der Kasse für das letzte Spiel bezahlt hat, erhält er den silbernen Fünfer retour. Er dreht das Münzstück in der Hand, wirft es dann kurzerhand in einen der Spielautomaten, die nahe der Kasse angebracht sind. Das Hartgeld scheppert durch den wuchtigen Apparat.

Dann ertönt plötzlich eine Hymne, der Automat blinkt und dudelt - und spuckt 900 Mark aus.

Heinrich Riesen hat zum ersten Mal gezockt - und gewonnen.

Der junge Handwerker kann sein Glück kaum fassen. Das Erlebnis an dem Apparat in Minden wird das Leben von Heinrich Riesen für immer verändern, wird es alptraumhaft verzerren.

Zehn Jahre lang zockt er sich durch Deutschland, an keinem Automaten kann er vorbeigehen, ohne Geld einzuwerfen. Er ist besessen vom Spiel. Mal verbringt er nur wenige Momente auf einem der Barhocker vor den blinkenden Maschinen, mal viele Stunden - aber er bleibt immer so lange, bis er kein Geld mehr in der Tasche hat.

Hohe Beträge gewinnt er nur noch selten. Einmal 1000, dann 1500 Euro. Einmal sogar 5000 Euro - mit einem Einsatz von 20 Euro. Solche Momente reichen aus, um die Zockerei vor sich selbst zu rechtfertigen. "Ich war wie von Sinnen", sagt Riesen heute. Er sitzt in einem braunen Ledersessel in einem leeren Restaurant in Melle, 20 Kilometer von Osnabrück entfernt. Riesen ist ein gewinnender Typ mit Zahnlücke, Manieren und einem markanten Blick. In Melle hat er sich jetzt ein neues Leben aufgebaut, arbeitet als Glaser.

Seine Sucht vergisst er nicht, die Gefühle, das Fieber, das ihn im Griff hatte. "Der Gewinn berauscht, man merkt nicht mehr, wie viel Geld man davor investiert hat." Doch die Glücksmomente wurden schnell seltener. Der junge Handwerker geriet in einen Teufelskreis aus Zockerei, kleinen Gewinnen und noch mehr Zockerei.

"Das Schlimme ist: Die Leute glauben einem die krudesten Storys"

Damals arbeitet Riesen auf Montage, sein Einkommen ist besser als das seiner gleichaltrigen Kumpel. Doch wenn sein 2000-Euro-Lohn am ersten des Monats überwiesen wird, ist Riesens Konto bereits auf Null. Zu viele Vorschüsse vom Chef.

Um seine Sucht zu verschleiern, um sie vor allem zu finanzieren, konstruiert Riesen ein Lügengebäude. Bloß nicht auffliegen. "Keiner in meiner Familie oder von meinen Freunden hat mitgekriegt, dass ich spiele - auch nicht meine Frau. Man wird zum perfekten Schauspieler, erfindet die krudesten Storys, um sich Geld zu leihen. Das Schlimme ist: Die Leute glauben einem."

Riesen tischt Familie und Freunden haarsträubende Geschichten auf, von streikenden Auspuffrohren, komplizierten Motorschäden, unverschuldeten Unfällen - Lügen, damit man ihm Geld gibt. In zehn Jahren fährt Riesen mehr als 25 verschiedene Autos, die er immer wieder verkauft, nur um zocken zu können. "Ich habe alle angebettelt: meine Eltern, Oma und Opa, Menschen, mit denen ich kaum befreundet war. Teilweise war es für mich selbst überraschend, wer einem alles Geld leiht."

Im Jahr 2005 macht er sich mit einer Firma für Trockenbau und Fußböden selbständig - die ideale Voraussetzung, um im Bekanntenkreis noch mehr Geld für seine Sucht zu erschwindeln. Riesen verzockt seine Existenz. Im März 2006 verpfändet er den Fahrzeugbrief seines Geschäftswagens für 1600 Euro an einen Autohändler. Das Geld kann er nicht zurückzahlen, der Verleiher wird ungemütlich. "Ich hatte so Angst aufzufliegen, dass mir die Sicherungen durchbrannten", sagt Riesen.

Mit einer 15-Euro-Plastikpistole überfällt er eine Volksbank

Am 4. April bedrängt ihn der Autohändler, droht dem jungen Unternehmer, setzt ihm ein Ultimatum. Riesen setzt sich in seinen silberblaumetallicfarbenen VW mit seinem Firmenlogo und fährt ziellos umher. Dann ist da plötzlich diese Idee: eine Bank. Eine Bank müsste man überfallen.

Riesen, bisher in seinem Leben noch nicht straffällig geworden, kauft sich auf der Kirmes in Osnabrück für 15 Euro eine Spielzeugpistole. Sie ist schwarz und sieht so aus wie die Knarren aus Spielfilmen. Riesen, leidenschaftlicher Motorradfahrer, schnappt sich zu Hause seine Sturmhaube sowie eine alte Arbeitshose und eine alte dunkle Jacke.

Er fährt zur Sparkasse in Lengerich, einer Stadt zwischen Münster und Osnabrück am Rande des Teutoburger Waldes. Riesen zieht sich die alten Klamotten über, nimmt die Sturmmaske und die Plastikpistole in die Hand - und verharrt vor dem Gebäude. "Ich stand da, wollte rein, aber konnte nicht." Nach einer Stunde flieht er unverrichteter Dinge, fährt in ein abgelegenes Waldstück. Der Autohändler ruft auf dem Handy an und macht Druck. Riesen ist verzweifelt.

Dann gibt er sich einen Ruck. Gegen 14 Uhr fährt er zur Volksbank nach Hagen, einer beschaulichen 14.000-Einwohner-Gemeinde im Landkreis Osnabrück. Er kennt die Bank nur von außen, weiß nicht, wie viele Angestellte dort arbeiten, wie hoch die Tageseinnahmen sind, ob es Videokameras oder andere Sicherheitsvorkehrungen gibt. Seinen Wagen parkt er 300 Meter von der Filiale entfernt in einem Wohngebiet. Er wartet, bis kein Kunde mehr in der Bank ist, zieht sich die Haube über den Kopf und betritt nervös die Eingangshalle.

Was macht er mit den Münzen aus dem Überfall? - "Was wohl?"

"Das ist ein Überfall, Geld in den Rucksack", ruft er hektisch und fuchtelt mit der Spielwaffe herum. "Wir haben nur Hartgeld, keine Scheine", erwidert die Kassiererin. Sie ist alleine in der Bank. "Mir egal, ich brauche dringend Geld!"

Welch Ironie, dass einer, der süchtig ist nach Glücksspielautomaten, eine Bank überfällt, die nur Münzgeld auf Lager hat.

Riesen flieht mit dem zentnerschweren Rucksack. "Das war das Adrenalin, im Normalzustand könnte ich so ein Gewicht keine zehn Meter weit schleppen." Im Wald zählt er seine jämmerliche Beute - 1260 Euro in Rollen, von Ein-Cent- bis Zwei-Euro-Stücken. "Mir ging es beschissen", erinnert sich Riesen. Im Radio hört er von dem Banküberfall: "Der Täter flüchtete mit Hartgeld in einem Bus nach Osnabrück." Eine Falschinformation.

Was macht er mit den Münzen nach dem Überfall? - "Was macht ein Spielsüchtiger mit Münzen?" Riesen entsorgt die Tatklamotten in einem Altkleidercontainer, setzt sich vor einen Automaten - und verliert.

Er fleht einen Bekannten an, der ihm die Summe leiht, die er braucht, um den Fahrzeugbrief auszulösen.

Abends liegt Riesen im Bett - das Dokument auf dem Nachttisch. Riesen träumt in jener Nacht, wie der Überfall ablief, wie er anders hätte ablaufen können. Drei Jahre lang lassen ihn die Träume nicht mehr los. Der Blick der Kassiererin verfolgt ihn. "Tagsüber konnte ich das verdrängen, aber nachts kam es immer wieder hoch."

Heinrich Riesen verzockt in zehn Jahren 200.000 Euro

Riesen vertraut sich niemandem an. Er ist von sich selbst entsetzt. Wie konnte er das dieser Frau antun? Wie soll sie je diese Minuten wieder vergessen? Wie es ihr wohl geht? Wie konnte er so tief sinken?

Seine Verzweiflung betäubt er mit der Zockerei. Nur einmal kommt ihm seine Frau fast auf die Schliche, als sie ihn um die Kontoauszüge bittet. Riesen zerkratzt den Magnetstreifen seiner EC-Karte, um sich Zeit zu verschaffen. Seine Frau fragt nicht mehr. Ende 2008 verlässt sie ihn mit dem gemeinsamen Sohn.

Riesen sagt, er habe durch seine Sucht 200.000 Euro verloren. Am 14. Februar 2009 begreift er endlich, dass er nicht nur sein Geld verloren hat, sondern auch seine Familie, die Kontrolle über sich selbst und seine Selbstachtung.

Er ruft seine Eltern an, beichtet ihnen seine Sucht - und den Überfall. "Sie waren schockiert. Ich hatte bis dahin noch nie in meinem Leben etwas geklaut oder einen Menschen betrogen. Aber sie haben mich nicht im Stich gelassen. Mein Vater sagte: Komm nach Hause, wir fahren zusammen zur Polizei. Aber ich hatte Sorge, dass ich es mir auf der langen Fahrt doch wieder anders überlege." Kurz vor Mitternacht stellt er sich in Dresden, wo er sich gerade beruflich aufhält, der Polizei.

Auf dem Polizeirevier muss Riesen Überzeugungsarbeit leisten

"Wie viel haben Sie denn getrunken?", fragen ihn die beiden Beamten, die auf dem Revier einer kleinen Wache Nachtdienst schieben. Vier Stunden braucht Riesen, um die Polizisten davon zu überzeugen, dass er eine Bank überfallen hat. Die Akten zu dem ungeklärten Fall sind längst im Keller einer Dienststelle im 480 Kilometer entfernten Georgsmarienhütte eingestaubt. Riesen hatte trotz seines dilettantischen Überfalls keinerlei Spuren hinterlassen.

In den frühen Morgenstunden wird er einer Haftrichterin vorgeführt, die ihn wegen Fluchtgefahr sofort in Untersuchungshaft steckt. Zwei Monate bleibt er in Haft. Auch ein Gefängnis kennt Riesen bis dahin nur aus dem Fernsehen. "Es ist genau wie im Film: Eine mickrige Zelle, eine Stunde pro Tag im Hof im Kreis gehen. Aber ich war trotzdem befreit, hatte ein leichtes Herz." Doch die Alpträume bleiben.

Nach der U-Haft unterzieht sich Riesen einer zehnwöchigen Therapie gegen Spielsucht in einer Klinik in Bad Hersfeld. Seither besucht er einmal pro Woche eine Selbsthilfegruppe. Er sagt, es helfe ihm, offen über seine Sorgen und Nöte zu sprechen und zu verstehen, warum er dieser Sucht erlag.

"Man bleibt ein Spieler. Geheilt werden kann man nicht, nur trocken bleiben wie ein Alkoholiker", sagt Riesen mit einem hoffnungsvollen Lächeln.

Am Montag muss sich der 28-Jährige vor dem Amtsgericht Bad Iburg für den Überfall verantworten. Er hofft auf eine Bewährungsstrafe.

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