Körperverletzung, Vergewaltigung, Mord Die Mär von der steigenden Jugendkriminalität

Die Jugendlichen werden immer gewalttätiger und krimineller - das glauben die meisten Deutschen. Doch ein Blick in die Statistik zeigt: Die Furcht ist unbegründet.
Die Jugendkriminalität geht zurück

Die Jugendkriminalität geht zurück

Foto: Der SPIEGEL/ Statistisches Bundesamt

Klagen über die angebliche Verrohung der Jugend gehen immer, das kennt auch Thomas Bliesener: "Wahrscheinlich ist schon in Keilschriften über jugendliche Brutalos gemeckert worden", ulkt der Direktor des kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN).

Dabei zeigt ein Blick in die Strafverfolgungsstatistik  des statistischen Bundesamtes: Die Jugendkriminalität ist in Deutschland in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen - jugendlich ist man zwischen dem 14. und 18. Geburtstag. Das statistische Bundesamt erhebt die Zahlen für das gesamte Bundesgebiet erst seit 2007, die aktuellsten Zahlen sind von 2014.

Der Trend ist klar: Die Kurven für Mord und Totschlag, Körperverletzung und Vergewaltigung durch Jugendliche sinken kontinuierlich, die Zahlen der verurteilten Jugendlichen haben sich in diesen sieben Jahren bei allen genannten Straftaten mehr als halbiert.

Für die westlichen Bundesländer liegt die Statistik für einen längeren Zeitraum vor . Hier zeigt sich schon seit 1999 eine Tendenz zu geringeren Verurteiltenzahlen bei Jugendlichen. Die Kurven fallen auch hier - nur bei Körperverletzungen gab es um 2008 eine Häufung. Insgesamt nahmen aber auch diese in den vergangenen 15 Jahren um mehr als ein Fünftel ab.

Statistik misst nur Hellfeld-Kriminalität

Wie verlässlich sind diese Zahlen? Sowohl die hier genutzte Strafverfolgungsstatistik als auch die sonst häufig verwendete Polizeiliche Kriminalitätsstatistik (PKS) bilden nur die sogenannte Hellfeld-Kriminalität ab, also die Verbrechen, die zu Aburteilungen geführt haben beziehungsweise angezeigt wurden.

Die Dunkelfeld-Kriminalität wird lediglich stichprobenartig mit Opferbefragungen gemessen und kann für die gesamte Bundesrepublik nur geschätzt werden. Doch Kriminologe Bliesener vermutet, dass auch sie abnimmt.

Anzeigebereitschaft steigt

Die Statistiken scheinen die tatsächliche Abnahme der Jugendkriminalität sogar zu untertreiben. Die PKS zählt die Anzeigen, ob die Angezeigten auch wirklich Straftaten begangen haben, ist noch gar nicht klar. Studien haben ergeben, dass die Deutschen heutzutage eher dazu bereit sind, Anzeige zu erstatten als noch vor 20 Jahren.

Mehr Anzeigen bedeuten also nicht, dass es mehr Kriminalität gibt; es hat lediglich eine Verschiebung vom Dunkelfeld ins Hellfeld stattgefunden. Außerdem muss stets davon ausgegangen werden, dass eine Flut unbegründeter Anzeigen die Statistik verzerren könnte.

Die Strafverfolgungsstatistik hingegen gibt Auskunft über identifizierte und schuldig gesprochene Täter. Wichtigstes Argument für die Strafverfolgungsstatistik ist ohnehin: Deutschland ist ein Rechtsstaat und in einem Rechtsstaat ist ein Mensch so lange unschuldig, bis ihn ein Gericht verurteilt hat. Deshalb stützt sich diese Analyse auf die Strafverfolgungsstatistik.

Die Zahlen sinken - die Furcht bleibt groß

Obwohl Jugendliche immer weniger stehlen, prügeln oder gar morden, bleibt in der Bevölkerung die Furcht vor gewalttätigen Jugendlichen gleichbleibend hoch. Zu diesem Ergebnis  kamen die Kriminologen aus Niedersachsen vor fünf Jahren.

Die Forscher befragten für eine repräsentative Längsschnittstudie Tausende Bundesbürger danach, wie sie die Kriminalitätsentwicklung einschätzen: 91 Prozent der Studienteilnehmer gingen bei der jüngsten Erhebung im Jahr 2010 davon aus, dass Gewalttaten von Jugendlichen ansteigen, fast 50 Prozent vermuteten gar einen starken Anstieg.

Zum Vergleich fragten die Forscher auch die Furcht vor Kriminalität im Allgemeinen und die Furcht vor Gewaltkriminalität ab. Beide Werte sanken zwischen 2006 und 2010 deutlich - nur die Furcht vor der Jugend blieb konstant hoch.

Das ist überraschend, weil die Zahl der jugendlichen Vergewaltiger, Schläger, Diebe und Mörder im Verhältnis sogar noch schneller sinkt als in der Gesamtbevölkerung.

"Angst entsteht durch sensationsheischende Berichterstattung"

Warum klaffen Wirklichkeit und Wahrnehmung derart auseinander? Der Kriminologe Wolfgang Heinz von der Uni Konstanz macht maßgeblich die Medien verantwortlich: "Angst vor Kriminalität entsteht meist nicht durch eigene Erfahrungen, sondern durch sensationsheischende Berichterstattung."

Der Druck zu hohen Einschaltquoten und Auflagen sorge dafür, dass über brutale Einzelfälle überproportional oft berichtet werde.

Die Botschaft in den Medien: Es könne jeden treffen, jederzeit. Studien zeigen auch, dass sich der Anteil an Fernsehsendungen, die Kriminalfälle thematisieren, zwischen 1995 und 2009 fast verdoppelt hat. Eine Medienrealität, die maßgeblich beeinflusst, wie weite Teile der Bevölkerung Kriminalität wahrnehmen.

Weibliche Straftäterinnen emanzipieren sich

Männliche Jugendliche sind krimineller als weibliche, das ist wenig überraschend. Doch der Anteil der jungen Täterinnen steigt: Von rund 17 Prozent im Jahr 2007 auf mehr als 21 Prozent 2014.

"Es findet eine Emanzipation statt", sagt Kriminologe Bliesener. Jungen und Mädchen glichen sich zunehmend an, gerade was Gewalt angehe. Ein Grund dafür sei, dass sich die Rollenmuster wandeln. "Früher gab es keine Vorbilder von aggressiven Frauen in Literatur, Film und Fernsehen, das hat sich spätestens mit Lara Croft oder Uma Thurmann in 'Kill Bill' geändert", sagt Bliesener.

Heute gebe es eben auch kriminelle Mädchenbanden, die dann wieder Vorbilder für andere Mädchen würden und so weiter und so fort. Doch können auch diese "emanzipierten" Täterinnen den Trend nicht umkehren: Bei weiblichen Jugendlichen sinken die Zahlen der Verurteilungen ebenfalls - nur eben langsamer als bei den männlichen.

Sachsen-Anhalt ist statistisch das Land mit der höchsten Jugendkriminalität

Für die Analyse der regionalen Verteilung eignet sich als Vergleichsgröße nur die Verurteiltenquote : Wie viele Verurteilte gibt es pro 100.000 Jugendliche im Land?

Sachsen-Anhalt war mit 1303 Verurteilten pro 100.000 Jugendliche statistisch das kriminellste Bundesland.

Nur in Bremen steigt die Rate

Bremen ist das einzige Land, in dem die Rate zwischen 2007 und 2014 stieg - wenn auch nur geringfügig. Schleswig-Holstein war 2014 mit 478 Verurteilten pro 100.000 Jugendliche statistisch das Land mit den wenigsten Jungkriminellen.

Das örtliche Landeskriminalamt führt das auf das erfolgreiche Intensivtäterkonzept zurück, das mehrfach auffälligen Jugendlichen einen Weg aus der Kriminalität bereiten soll.

"Die Unterbrechung einer 'kriminellen Karriere' verhindert eine Vielzahl von Straftaten", sagt ein LKA-Sprecher. Zudem werde in Schleswig-Holstein besonders häufig das sogenannte Diversionsverfahren angewandt, bei dem Jugendliche nicht etwa zu Jugendstrafen verurteilt werden, sondern stattdessen Sozialstunden ableisten müssen.

"Law & Order" bringt wenig

Damit bestätigt die Entwicklung in Schleswig-Holstein die Erkenntnisse der Wissenschaft: 'Law & Order'-Politik, also eine mächtige Polizei gepaart mit hohen Strafen, ist nicht effizient, um Straftaten zu verhindern.

"Härtere Sanktionen mindern die Rückfallquote nicht", sagt Kriminologe Heinz, "Ein Betrunkener überlegt sich vor Straftaten nicht: Halt, werde ich jetzt erwischt? Und was bekomme ich dann als Strafe? So denkt kein Täter."

Man könne mit Blick auf wissenschaftliche Untersuchungen sogar vom Gegenteil ausgehen: Jugendliche, die nach einer harten Strafe ihre Zukunft verbaut sehen, würden die Regeln der Mehrheitsgesellschaft aus Trotz noch stärker ablehnen, gewalttätiger werden und damit wieder durch Straftaten auffällig.

In den vergangenen 20 Jahren starteten in allen Bundesländern zahlreiche solcher Projekte. Mit Rollenspielen, Sportangeboten und Nachhilfe sollen auffällige Jugendliche den Weg zurück in ein gesetzestreues Leben finden.

Furcht bleibt hoch

In der KFN-Studie von 2010 fragten die Forscher auch, wie die Teilnehmer die zukünftige Entwicklung der Jugendkriminalität einschätzen.

Knapp 85 Prozent der Befragten glaubten, dass Straftaten von Jugendlichen in den kommenden zehn Jahren häufiger würden.


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