Kriminalität Brasilien greift zur Selbstjustiz

Festnahme in einer Favela in Rio: Wie konnte es so weit kommen?
Foto: Mario Tama/ Getty ImagesMehr als 550.000 Brasilianer sind in den vergangenen 10 Jahren ermordet worden, acht Mal ein volles Maracanã-Stadion. Alle zehn Minuten wird in Brasilien ein Mensch getötet. 56.337 waren es im Jahr 2012, besagt die aktuellste Statistik. Im gleichen Jahr wurden in Deutschland 281 Morde registriert. Die Mordrate in Brasilien liegt bei 28,5 pro 100.000 Einwohner, das ist dreißig Mal höher als in Deutschland. Die Aufklärungsquote liegt gerade mal bei 8 Prozent, in Deutschland sind es mehr als 96 Prozent.
Angesichts der desaströsen Zahlen wächst der Zorn der Bürger: "Wo ist die Polizei, wenn man sie braucht?" In brasilianischen Medien wird viel über Selbstjustiz berichtet. Konkrete Zahlen gibt es nicht, in den Statistiken werden Lynchverbrechen nicht einzeln aufgeführt.
Doch es scheint einen Trend zu geben: Immer öfter greifen Brasilianer zu Selbstjustiz. Wie etwa die Einwohner des bürgerlichen Viertels Flamengo in Rio de Janeiro, die einen jungen Dieb verprügelten, nackt auszogen und mit einem Fahrradbügelschloss an einen Laternenpfahl anketteten. Wie konnte es so weit kommen?
Die Geschichte beginnt im Stadtteil Lapa. Jedes Wochenende strömen Zigtausende Touristen und Cariocas in die kleinen Kneipen und Restaurants, wo Samba gespielt und getanzt wird und Bier und Caipirinha fließen. Dabei ist der alte Stadtkern ein heißes Pflaster. Überfälle, Diebstähle, Messerstechereien waren an der Tagesordnung. Die Situation war so prekär, dass im Januar mit Blick auf die Weltmeisterschaft ein staatliches Programm ins Leben gerufen wurde: Operação Lapa Presente - mehr als 160 Polizisten sind abgestellt, sie patrouillieren zwischen 21.30 und 5.30 Uhr durch die Altstadtgassen.
Lynchstimmung in Flamengo
In den ersten sechs Monaten der Polizeioperation wurden mehr als 800 Menschen festgenommen, 135 davon wurden zu Haftstraften verurteilt. 6 wegen Mordes, 61 wegen Raubs, 27 wegen Diebstahls, 21 wegen Drogenhandels. Das wird als großer Polizeierfolg gewertet.
Doch die Taktik hat Folgen. Durch die verstärkte Polizeipräsenz in Lapa verschob sich der Wirkungskreis von Ganoven in die benachbarten Viertel - speziell die Einwohner von Flamengo beklagten einen rasanten Anstieg von Überfällen, sexuellen Belästigungen, Diebstählen.
Schließlich hatte sich die Situation in Flamengo so zugespitzt, dass einige Anwohner zur Selbstjustiz griffen. Am 31. Januar schnappten sie den jungen Dieb. Sie prügelten auf ihn ein, zogen ihn aus, ketteten ihn an einen Laternenpfahl. Eine Anwohnerin verbreitete das Bild über soziale Netzwerke, um die Tat anzuprangern. Das Magazin "Veja" zeigte den 15-jährigen Täter, der zum Opfer wurde, auf dem Titelbild. "Zivilisation und Barbarei" hieß die Titelgeschichte.
Mehr als 50 Fälle wurden im ersten Halbjahr in Brasilien bekannt, berichtet die Internetseite G1 von "Globo".
Nur wenige Wochen nach der Zurschaustellung des jungen, nackten Diebes in Flamengo prügelten Anwohner auf einen anderen 13-Jährigen ein. Der Junge hatte einer alten Dame eine Halskette gestohlen. Eine Augenzeugin sagte, die Menge habe den Minderjährigen lynchen wollen. Fotos zeigen einen am Boden liegenden blutüberströmten Jugendlichen inmitten einer Menschenmenge.
Ein Apfel war das Todesurteil
Das Phänomen wird auch aus anderen Bundesstaaten gemeldet. Ein erschütternder Fall von Selbstjustiz wurde im Mai aus dem Staat São Paulo bekannt. Fabiane Maria de Jesus, 33, wurde in Guarujá von Dutzenden Nachbarn totgeprügelt. Im Internet hatten Unbekannte das Gerücht verbreitet, dass eine Frau Kinder entführe und schwarze Magie ausübe, dazu wurde ein Foto der angeblichen Hexe gepostet. De Jesus sah der abgebildeten Frau ähnlich - und als sie dann einem Kind auf der Straße einen Apfel anbot, war das ihr Todesurteil. Anwohner filmten die Tat, niemand griff ein. Der Film kursiert im Internet. Auch dies - eine Verwechselung - ist kein Einzelfall.
In Santo Caso in Campo Grande wurde im Mai ein Mann zu Tode geprügelt. Anwohner hatten ihn mit einem Vergewaltiger verwechselt. Der jüngste Fall, der durch die brasilianischen Medien ging: Am 1. Juli konnte sich ein Geschichtslehrer in São Paulo vor dem wütenden Mob nur retten, indem er eine Geschichtsstunde über die Französische Revolution hielt. Er war eines Überfalls auf eine Bar verdächtigt worden. Der Chef des Ladens meinte, in ihm den Täter erkannt zu haben. Auf offener Straße prügelte der Mob auf den Mann ein, bis ein Helfer ihn schließlich aufforderte, seinen ordentlichen Berufsstand durch eine Lehrprobe zu beweisen. Das rettete ihm wohl das Leben.
Gefesselt, geprügelt, gefilmt
- Am 25. Februar wurde ein mutmaßlicher Dieb in Campo Grande, einem Vorort von Rio, gestellt, die Menge riss ihm die Kleider vom Leib, fesselte ihn. Dutzende Menschen sind auf einem Video zu sehen, das ein Augenzeuge machte. Angeblich war auch Polizei vor Ort, die griff aber nicht ein.
- Am 5. März wurde ein 16-Jähriger in Campo Grande an einem Straßenlaterne gekettet aufgefunden. Er soll versucht haben, einen Kiosk aufzubrechen.
- Am 11. März wurde ein Jugendlicher in Niterói von einem Taxifahrer an einen Laternenpfahl gebunden. Der Junge hatte versucht, einer Frau die Tasche zu stehlen.
- Am 11. Mai verhinderte eine Studentin im Stadtteil Freguesia, dass ein junger Mann von wütenden Passanten zu Tode geprügelt wurde. Er hatte ein Handy gestohlen.
Was kann man gegen den Zorn der Bürger und gegen die unfassbaren Verbrechensstatistiken ausrichten? Konservative Kräfte glauben, mehr Repression könnte das Problem lösen. Dagegen sagen viele linke und liberale Kräfte, erst der Ausgleich der krassen sozialen Ungerechtigkeiten könne zu einer Senkung der Kriminalität führen. Das Problem ist, dass das Vertrauen in das System der Strafverfolgung extrem beschädigt ist. Davon sind nicht mal Staatsangestellte ausgenommen.
Einen jungen Mann nackt an den Pranger zu stellen, sei ein " barbarisches Verbrechen", sagte ein Polizist SPIEGEL ONLINE. In Brasilien erlaubt die Verfassung, dass jedermann Verdächtige festsetzen kann, "aber was die Täter gemacht haben, das war Folter. Und das wird bestraft werden. Vielleicht werden die Verfahren sich lange hinziehen. Vielleicht 50 Jahre. Aber am Ende werden die Täter bestraft werden".
Die Polizei hat inzwischen die Präsenz in Flamengo verstärkt.
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