Philipp Kollenbroich

Kriminalität in Deutschland Verzerrter Blick auf das Verbrechen

Die Debatte über Kriminalität in Deutschland wird vor allem auf eine Weise geführt: mit Schaum vor dem Mund. Ein Plädoyer für eine realistische Gelassenheit.
Spurensicherung am Tatort (Archiv)

Spurensicherung am Tatort (Archiv)

Foto: Ina Fassbender/ DPA

Es gibt kaum ein Thema, das so stark polarisiert wie Kriminalität: Von rechts wird sinngemäß erklärt, Deutschland stehe kurz vor dem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung. Auf der linken Seite heißt es, Deutschland sei seit Jahrzehnten nicht so sicher gewesen wie heute (Rechtsextremismus ausgenommen), die besorgten Bürger mögen bitte ihre Protestplakate einpacken und ihre Furcht ablegen.

Beide Seiten halten sich dann - im übertragenen Sinne - die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) vor die Nase und erklären im Brustton der Überzeugung: "Siehste, hier steht's doch!"

Raten Sie mal, wann in Deutschland der letzte umfassende Bericht zur Sicherheitslage erschienen ist. 2019? 2017? 2015? Alles falsch. Es war im Jahr 2006, vor 13 Jahren also. Damals wurde der zweite "Periodische Sicherheitsbericht" veröffentlicht, der trotz seines Namens nie periodisch wurde.

Der Bericht hatte 830 Seiten und war eine ziemlich gute Sache, wie die Bundesregierung sagt. Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums erklärte in dieser Woche auf SPIEGEL-Anfrage: "Dabei geht es nicht nur um die Darstellung der Ergebnisse der Kriminalstatistik und der Strafverfolgungsstatistiken, sondern um eine systematische, breit gefächerte Aufarbeitung und Analyse des vorhandenen Datenmaterials unter kriminologischen, soziologischen, rechtswissenschaftlichen und statistischen Aspekten."

Prima.

Derselbe Sprecher erklärte im nächsten Satz: "Die Erstellung des Periodischen Sicherheitsberichts ist allerdings mit einem erheblichen personellen und finanziellen Aufwand verbunden, weshalb der letzte Bericht eine Weile zurückliegt."

Die Wahrheit ist doch: Zahlreiche Gesetze wurden in den vergangenen Jahren verschärft, Tausende neue Stellen für Polizisten geschaffen, Waffen und Panzerfahrzeuge angeschafft. Nur für eine wissenschaftlich fundierte Aufarbeitung der Sicherheitslage fehlen leider seit 13 Jahren Personal und Geld.

Ich halte diese Begründung für ziemlichen Unfug. Es war schlichtweg politisch nicht gewollt, ein vollständiges Bild im Bereich innere Sicherheit zu bekommen.

Stattdessen macht man Politik (und Stimmung) häufig auf Basis der Polizeilichen Kriminalstatistik. Dabei ist die PKS allein ein schlechtes Maß, um zu beurteilen, ob das Land sicherer oder unsicherer wird. Die polizeilich registrierten Fälle "stellen nur einen und überdies in mehrfacher Hinsicht verzerrten Ausschnitt der 'Kriminalitätswirklichkeit' dar", schreibt etwa der Konstanzer Strafrechtsforscher Wolfgang Heinz. Und seine Kollegin Susann Prätor erklärt, Fehlschlüsse hinsichtlich Struktur und Entwicklung der Kriminalität seien auf dieser Basis unvermeidbar.

Die Situation ist verrückt. In Deutschland wird der Preis für Schweinehälften auf den Cent genau amtlich notiert und verkündet. Nur bei der Kriminalität verlässt sich die Politik auf eine Statistik, bei der Fehlschlüsse unvermeidbar sind.

Es ist deshalb gut und richtig, dass das Bundeskriminalamt (BKA) in diesem Jahr nicht nur die PKS vorgestellt hat, sondern dazu den "Deutschen Viktimisierungssurvey" (DVS). Der spiegelt nicht wie die PKS die Arbeit der Polizei wider. Es wurden stattdessen mehr als 31.000 Menschen befragt, ob sie Opfer eines Verbrechens geworden sind und, falls ja, wie. Das erlaubt etwa Aussagen zu Taten, die bei der Polizei nie angezeigt wurden.

Mit der Veröffentlichung des DVS wird der Blick auf die Kriminalität ein Stück realistischer und vor allem differenzierter. Er erlaubt Vergleiche zwischen der ersten Befragung im Jahr 2012 und der nun veröffentlichten aus 2016/2017. Demnach ist Deutschland in diesem Zeitraum weder sicherer noch unsicherer geworden: Insgesamt sei "keine grundlegende Veränderung der Kriminalitätsbelastung der Bürgerinnen und Bürger zwischen 2012 und 2017 feststellbar", schreibt das BKA.

Der DVS ermittelte auch, dass sich 78 Prozent aller Menschen in ihrer Wohnumgebung sehr sicher oder eher sicher fühlen. Eine gute Nachricht. Aber: Die Zahl derer, die sich weniger sicher fühlen, ist signifikant gestiegen. Alles nur irrationale Angsthasen? Keineswegs. Gestiegen ist die Furcht nämlich vor allem vor Wohnungseinbrüchen - und das in einem Zeitraum, in dem die tatsächliche Zahl der Einbrüche ebenfalls zugenommen hat.

Es zeigt sich: Nur wer die reale Kriminalität bestmöglich erfasst, kann angemessen darauf reagieren, nämlich differenziert, besonnen, aber ebenso entschlossen. Zeit für mehr Realismus.

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