Werbeverbot für Abtreibungen Kristina Hänels Kampf geht weiter

Kristina Hänel (Archiv)
Foto: Silas Stein / dpaIhr Lebenspartner zieht die Gardinen zu. Draußen ist es dunkel, er möchte nicht, dass jemand sie heimlich beobachten kann. Kristina Hänel hält das für übertrieben. "Aber wenn der nächste öffentliche Termin ansteht, dann kommt sie wieder, die Angst. Das kenne ich inzwischen."
Hänel beschreibt diese Szene aus dem Herbst 2018 in ihrem Buch "Das Politische ist persönlich", das jetzt im Argument Verlag erschienen ist. Es ist ein Tagebuch. Das "Tagebuch einer 'Abtreibungsärztin'", wie es im Untertitel heißt. Das Wort Abtreibungsärztin ist in Anführungszeichen gesetzt. Kristina Hänel mag diese Bezeichnung nicht, schreibt sie, weil es ihre berufliche Tätigkeit unzutreffend auf Schwangerschaftsabbrüche reduziere. Kristina Hänel ist Allgemeinärztin in Gießen, sie bietet Reittherapie für Kinder an und arbeitete jahrelang im Rettungsdienst. Ab Herbst 2017 aber wird sie der Öffentlichkeit zunehmend als Abtreibungsärztin bekannt, als die Frau, die gegen den Paragrafen 219a Strafgesetzbuch kämpft.
Mit einem gelben Briefumschlag auf ihrem Küchentisch hat am 3. August 2017 alles angefangen. Kristina Hänel erfährt, dass sie nach einer Anzeige vor dem Amtsgericht Gießen angeklagt ist, weil sie auf der Internetseite ihrer Praxis schreibt, dass sie auch Schwangerschaftsabbrüche durchführt. Paragraf 219a stellt dies als verbotene Werbung unter Strafe. Dass sie deswegen angezeigt wird, kennt Hänel schon, doch bisher waren die Verfahren jedesmal eingestellt worden. Nun muss sie vor Gericht. Und Hänel beginnt zu kämpfen.
"Ich breche das Schweigen"
Die 62-Jährige versteht ihr Engagement als Kampf für das Informationsrecht von Frauen. Hänel will, dass Frauen sich uneingeschränkt über Möglichkeiten des Schwangerschaftsabbruchs informieren können, auch bei Ärztinnen und Ärzten, die diesen Abbruch vornehmen. Für Hänel ist der 219a ein "Geheimhaltungsparagraf". Also geht sie an die Öffentlichkeit. "Ich breche das Schweigen. Ich breche das Tabu." So sieht sie es.
Vielfach wurde über die Debatte über den Paragrafen 219a berichtet. Doch nun lässt sich nachlesen, wie es währenddessen der Frau ergangen ist, die diese Debatte ausgelöst hat.
Ein Verlag habe ihr Manuskript zur Veröffentlichung abgelehnt, weil es nichts Neues enthalte, schreibt sie. Bei Hänel kommt an, "die finden es langweilig". Die Anzeige gegen sie, ihre Petition an den Bundestag, der Prozess vor dem Amtsgericht, der Prozess vor dem Landgericht - das alles ist in der Tat nicht neu. Aber langweilig ist ihr Buch nicht.
Das Politische ist persönlich: Tagebuch einer »Abtreibungsärztin«
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08.06.2023 07.29 Uhr
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Denn Kristina Hänel beschreibt, was es bedeutet, zur öffentlichen Person zu werden. Sie gewährt Einblick in die Arbeit von Journalisten, aus der Perspektive einer Frau, die in den Fokus der Medien gerät. Sie beschreibt das Innenleben politischer Organisationen, von Vereinen und Institutionen, in denen auch nicht alle einer Meinung sind und es Streit um Inhalte und Machtkämpfe gibt. Sie schreibt, wie es ist, als Angeklagte die eigene Anwältin als inkompetent zu erleben, und von der Suche nach einem neuen Rechtsbeistand.
Kristina Hänel erlebt Unterstützung und Solidarität, aber auch Anfeindungen und Hass. Sie bekommt Albträume. Sie träumt davon, dass "mich die 'Abtreibungsgegner' auf dem Weg zum Gerichtssaal erschießen wollen".
Es trifft sie, wenn Abtreibungsgegner Schwangerschaftsabbrüche mit Massenmord gleichsetzen. Immer wieder schreibt sie von ihren Kindern und Enkeln und von den Mädchen und Jungen mit und ohne Handicap, die sie therapiert. Kristina Hänel liebt Kinder, und sie hält es für notwendig, dies in ihrem Buch immer wieder zu betonen.
Frauen machen sich die Entscheidung gegen ein Kind niemals leicht, das ist ihre Erfahrung. Sie beschreibt Fälle aus ihrer Praxis, solche, in denen es zum Abbruch einer Schwangerschaft kam, auch solche, in denen Frauen sich für das Kind entschieden haben. Die Vorstellung, dass Frauen von Ärzten zu einem Abbruch verführt werden könnten, hält sie für absurd. Hänel streitet dafür, Frauen als mündige Bürgerinnen anzuerkennen.
Kristina Hänel hat dazu beigetragen, dass Paragraf 219a reformiert wird. Fortan dürfen Ärzte und Ärztinnen auf ihrer Internetseite bekannt machen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Doch wie sie das tun und welche Methoden es gibt, dürfen sie auch in Zukunft nicht selbst veröffentlichen. Stattdessen sollen sie auf Internetseiten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung oder von Pro Familia verweisen. Das Gesetz verpflichtet den Staat, umfassend zu informieren. Kristina Hänel reicht das nicht, sie fordert die Abschaffung von Paragraf 219a. Ihr Kampf geht weiter.
Gegen das Urteil des Amtsgerichts war Hänel in Berufung gegangen. Ihr Buch endet mit der Verhandlung vor dem Landgericht Gießen. "Mein schönster Prozess", nennt sie ihn. Sie erwähnt die Femen-Aktivistinnen, die mit nacktem Oberkörper im Treppenhaus protestierten. Und sie freut sich über die persönlichen Worte des Vorsitzenden Richters, die sie zitiert und mit denen er sich "als Bürger" klar gegen Paragraf 219a positioniert hat.
Die Kammer habe sie nach geltendem Recht dennoch verurteilen müssen, sagte er und riet ihr: "Sie müssen dieses Urteil tragen wie einen Ehrentitel im Kampf um ein besseres Gesetz." Hänels Ausführungen vor Gericht, auch die ihres Anwalts, lassen sich in ihrem Buch nachlesen, auch das schriftliche Urteil des Landgerichts, gegen das sie Revision eingelegt hat. Ihr Ziel bleibt das Bundesverfassungsgericht.
Doch eigentlich ist es nicht der juristische Weg, den sie sucht. "Ich denke ohnehin, dass sich der Ausgang auf der Straße entscheidet, nicht im Gericht und nicht in den Parlamenten", schreibt Hänel. Ihr geht es um den öffentlichen Diskurs. Und ihr Buch ist ein Beitrag dazu.