Aussage in München Staatsanwältin lässt Zeugen in Handschellen abführen

Ein Zeuge entlastet eine Frau, die wegen versuchten Mordes vor Gericht steht. Doch seine Aussage am Landgericht München I passt offenbar weder Richtern noch Staatsanwaltschaft.
Angeklagte am Landgericht München I

Angeklagte am Landgericht München I

Foto: Sigi Jantz

"Die Justiz ist tatsächlich auf beiden Augen blind! Unglaublich, was man sich hier in München erlaubt!" Mit diesen Worten stürmte die Hamburger Strafverteidigerin Annette Voges empört aus jenem Verhandlungssaal im Münchner Justizgebäude, in dem gegen die 34 Jahre alte Melanie Meier aus Hamburg verhandelt wird.

Der Angeklagten wird versuchter Mord vorgeworfen. Das schätzen nicht nur Meiers Verteidiger als überzogen ein. Nun präsentierte die Verteidigung einen Entlastungszeugen, der sich nach Lektüre eines SPIEGEL-Berichtes über den Fall (den Artikel finden Sie hier) gemeldet hatte. Das Ende vom Lied: Der Mann wurde vorläufig festgenommen und wie ein Schwerverbrecher in Handschellen abgeführt.

Melanie Meier ist vor dem Landgericht München I angeklagt, am ersten Oktoberfest-Samstag 2015 in der Nacht zum 20. September vor dem Käfer-Zelt auf der Wiesn einem jungen Mann mit einem Taschenmesser in die Seite gestochen zu haben. Dieser hatte zuvor wüste rassistische Parolen ausgestoßen - erst gegen den dunkelhäutigen früheren Fußballnationalspieler Patrick Owomoyela, dann gegen Flüchtlinge und Ausländer und schließlich auch gegen die Angeklagte.

Nicht nur das: Melanie Meier behauptet, von dem Mann körperlich derart angegangen worden zu sein, dass sie glaubte, sich nicht anders als mit dem Taschenmesser gegen ihn wehren zu können.

Der Richter? Sichtlich entschlossen, dem Zeugen nichts zu glauben

Die Staatsanwaltschaft unterstellt Meier, sie habe den Pöbler mit einem Taschenmesser töten wollen. Der Zeuge hingegen, ein deutscher Geschäftsmann aus der Schweiz, schilderte Beobachtungen am Tatort, die der These der Staatsanwaltschaft widersprechen.

Er war laut eigenen Angaben an jenem Samstag erst im Paulaner-Festzelt, wo er an einem Tisch mit Engländern ins Gespräch gekommen sei. Nach Zeltschluss um 23 Uhr sei man auf der Suche nach noch geöffneten Lokalitäten über das Oktoberfest-Gelände gebummelt. "Um die Zeit ist doch schon alles zu", hält ihm der Vorsitzende Richter Norbert Riedmann ungehalten vor. "Da sind lauter Besoffene! Und da wollen Sie noch zwei Stunden spazieren gegangen sein?"

"Es ging mir darum, mal da gewesen zu sein", antwortet der Zeuge. "Alle sagen, da muss man mal hin, zum Käfer." Riedmann: "Das bezieht sich aber doch nicht auf das Zelt, sondern auf die Leute dort!" Der Vorsitzende ist sichtlich entschlossen, dem Zeugen nichts zu glauben. "Sie sind aus München", antwortet der Geschäftsmann, "aber für einen Nicht-Münchner will man schon mal dort gewesen sein."

Der Zeuge berichtet flüssig und detailliert, was ihm damals auffiel: die große Hektik vor dem Käfer-Zelt, aus dem die Besucher herausströmten, lautstarke Pöbeleien à la "Negerschlampe" und "Ihr habt in Deutschland nichts verloren", "Ich bring euch um" und so fort. Er habe gesehen, wie ein etwa 1,90 großer Mann, kurze, dunkle Haare, normale Statur, auf eine Frau losging. "Sie stach hervor. Sie hatte toll hochgesteckte Haare und ein sehr schönes Dirndl an. Wie man es bei Gästen von Käfer eben erwartet." Der Mann habe Tracht getragen.

"Ich sah einen Schlag gegen ihren Kopf"

Die Frau habe geschrien: "Geh weg, lass mich." - "Für mich sah es so aus, als habe der Mann sie zu Boden bringen wollen", sagt der Zeuge. Der Angreifer habe die Frau mit beiden Händen an den Schultern gepackt, als wolle er sie schütteln. "Ich sah einen Schlag gegen ihren Kopf. Und dass der Mann dann allein die Szenerie verließ." Noch während er überlegt habe einzuschreiten, sei die Sache vorbei gewesen, sagte der Zeuge.

Er hat Beobachtungen gemacht, die in keinem Medienbericht vorkamen. Etwa wo die Band stand, deren Musik die Besucher beim Verlassen des Zeltes begleitete. Er sagt: "Ich hörte nur Wortfetzen. Viele Leute waren lustig und laut. Aber diese Stimmen stachen heraus. Sie passten nicht in die Szenerie."

Der Vorsitzende zweifelt an der Darstellung. "Wie kommt es dazu, dass Sie sich ein Dreivierteljahr später an Uhrzeiten und Kleidung erinnern? So genaue Beschreibungen kriegen wir von Zeugen normal nicht mal am nächsten Tag." Ein Beisitzer erkundigt sich nach Zweck und Dauer des Besuchs des Zeugen in München. Der Mann spricht im gleichen flüssigen Stil weiter und beschreibt präzise Details. Einmal aber spricht er vom "Arm" der Frau, wenig später vom "Angriff gegen den Arm" der Frau. Ein Widerspruch?

Es geht um Nichtigkeiten. Der Zeuge sagt, er habe sich erst mit Angehörigen und Freunden beraten, ob er sich melden solle. Dann habe er bei Verteidiger Steffen Ufer angerufen. Etwas später sagt er, er habe erst bei Rechtsanwalt Gerhard Strate angerufen. Ein Widerspruch? Ist es eine Straftat, Ufer mit Strate zu verwechseln? Bei Strate kam er nicht weiter als bis zum Sekretariat. Dann wandte er sich an Ufer.

"Das ist der Versuch von Beugehaft"

Auf die Frage, welches Wetter an jenem Samstag geherrscht habe, sagt er: Es hat nicht geregnet. Tatsächlich gingen tagsüber ein paar Schauer nieder, möglicherweise zu der Zeit, als der Mann im Paulaner-Zelt saß. Nachts, vor dem Käfer-Zelt, war es nachweislich trocken. Hat der Zeuge sich mit seinen Angaben zum Wetter in Widersprüche verwickelt? Hat er gar einen Grund geliefert, ihn als Entlastungszeugen vorläufig festzunehmen?

"Das ist der Versuch von Beugehaft", erregt sich Verteidiger Ufer. "Man sperrt den Zeugen in eine der dunklen, scheußlichen Zellen, man kocht ihn dort weich, um ihn zu einem Widerruf seiner Aussage zu bringen!" Die Staatsanwältin, die den Mann so forsch festnehmen ließ, hatte ihm zuvor nicht seine angeblichen Widersprüche vorgehalten, sondern nur erklärt, "das" - was eigentlich? - seien für sie Widersprüche. Protokollieren ließ sie auch nichts. Ist das ein faires Vorgehen?

In Gerichtssälen wird bekanntlich oft gelogen. Es wird getrickst und herumgeeiert. Manchmal ergeben sich Widersprüche, weil zwei Zeugen, die das Gleiche sahen, sich unterschiedlich erinnern. Festnahmen im Saal sind trotzdem die absolute Ausnahme und erfolgen nur in Extremfällen.

Für das Vorgehen der Staatsanwaltschaft scheint es in München zweierlei Maß zu geben: Ermittlungen gegen den Pöbler, der zum Opfer wurde, wegen des Anbaus sogenannter "magic mushrooms", also Pilzen mit berauschender Wirkung, wurden eingestellt.

Zur Begründung hieß es, ein Tatnachweis sei nicht zu führen gewesen. Obwohl der Verdächtige selbst zugegeben hatte, solche Pilze an jenem Wiesn-Samstag konsumiert zu haben. Möglicherweise war sein außergewöhnlich aggressives Verhalten darauf zurückzuführen. Die Münchner Staatsanwaltschaft hatte für ihre Entscheidung einfach das Ergebnis einer Blutuntersuchung beim Verdächtigen nicht abgewartet. Und das Verfahren einfach nicht wieder aufgenommen, als das eindeutige Resultat vorlag.


Update, 20. Juli 2016: Inzwischen hat der Zeuge eine Falschaussage gestanden. Er habe 100.000 Euro dafür geboten bekommen, die Angeklagte zu entlasten. Er sitzt in Untersuchungshaft. Mehr dazu lesen Sie hier.

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