Fotostrecke

Demonstration in Sanford: Tausende fordern "Gerechtigkeit für Trayvon"

Foto: MARIO TAMA/ AFP

Getöteter US-Teenager Erst schießen, dann fragen

Der Fall des erschossenen schwarzen US-Teenagers Trayvon Martin, 17, wird immer mehr zum Politikum. Tausende fordern die Festnahme des Todesschützen, Aktivisten rufen Präsident Obama zum Handeln auf. Die wahre Schuld aber liegt bei Amerikas "Notwehr-Gesetzen".

Sie kommen mit Autos, mit Bussen und zu Fuß, füllen bald den gesamten Stadtpark. Sie schreien. Sie brüllen. Sie schwenken Schilder: "Gerechtigkeit für Trayvon." Und: "Bin ich der Nächste?" Einige fassen sich im Kreis an und singen "We shall overcome", die historische Hymne der US-Bürgerrechtsbewegung.

Es ist die jüngste in einer Welle landesweiter Protestdemos, und die größte und wütendste in der Geschichte von Sanford - jenem Ort in Florida, der plötzlich so unrühmlich berühmt geworden ist. Fast 10.000 Menschen strömen am Donnerstagabend in den Fort Mellon Park in der Downtown. Viele tragen trotz der grellen Sonnenhitze Kapuzen, aus Solidarität.

Denn eine Kapuze trug auch Trayvon Martin, als er starb, nicht weit entfernt von dem Park. Der 17-jährige Schwarze war Ende Februar erschossen worden, nachdem er an einem Kiosk Eistee und Süßigkeiten gekauft hatte. Der Schütze: George Zimmerman, 28, ein selbsternannter "Nachbarschaftwächter". Doch bis heute ist Zimmerman auf freiem Fuß: Er beruft sich auf Notwehr - obwohl Martin unbewaffnet war, jünger und wesentlich schmächtiger als er.

Fast vier Wochen nach der Tat schlägt der Fall täglich höhere Wellen, vor allem dank des Internets. Auf Twitter ist er ein Dauerthema, die Facebook-Seite "Justice For Trayvon Martin" hat fast 62.000 Mitglieder, hinzu kommen immer mehr YouTube-Videos. Auch haben mehr als 1,4 Millionen Menschen eine Online-Petition unterzeichnet, die fordert, Zimmerman zur Rechenschaft zu ziehen.

Der Skandal wird zum nationalen Politikum

Das Web verleiht der kollektiven Empörung Flügel. Wochenlang blieben die Behörden tatenlos, jetzt überschlagen sich die Ereignisse.

Floridas republikanischer Gouverneur Rick Scott traf sich mit den Eltern Martins und ernannte einen neuen Staatsanwalt. Sanfords Polizeichef Bill Lee trat "vorübergehend" zurück. Schwarze Aktivisten forderten US-Präsident Barack Obama auf, Stellung zu beziehen. Der hält sich bisher aber bedeckt und ließ Martins Familie über seinen Sprecher Jay Carney nur seine "Gebete" ausrichten.

Denn der Skandal wird zugleich zum nationalen Politikum, bei dem es um viel mehr geht als um Trayvon Martin und die erschreckenden Todesraten schwarzer Jugendlicher. Politiker aller Couleur vereinen sich im Protest gegen die landesweit laxen Waffengesetze - während die US-Waffenlobby NRA stramm dagegen hält.

Im Mittelpunkt des Feuersturms steht ein Gesetz von 2005, das es Floridas Bürgern erlaubt, "Gewalt mit Gewalt zu begegnen, inklusive tödlicher Gewalt" - so sie sich bedroht "fühlen". Im Volksmund heißt dieses Notwehr-Gesetz "Shoot First, Ask Later": Erst schießen, dann fragen. Es ist dieses Motto, das Martin zum Verhängnis wurde - und auf das sich nun Zimmerman und die Polizei berufen: Er habe völlig im Einklang mit dem Gesetz gehandelt.

"Willst du wissen, wie du in Florida jemanden legal umbringen kannst?", erklärte die Anti-Waffen-Gruppe Coalition to Stop Gun Violence. "Sorge dafür, dass du keine Zeugen hast, bringe die Person zur Strecke und behaupte dann, dass du Angst um dein Leben hattest."

Erlaubnis, bei "gefühlter Angst" zu schießen

Schlimmer noch: Ähnliche Gesetze existieren in mindestens zwei Dutzend Bundesstaaten - also fast der Hälfte des Landes. Ginge es nach der NRA, soll es sogar bald überall in den USA erlaubt sein, auf jeden zu schießen, der einem auch nur ansatzweise verdächtigt vorkommt.

Die Gesetzeslage in Florida erwuchs aus einem Nachspiel des Hurrikans "Ivan": 2004 hatte ein 77-Jähriger einen Mann erschossen, der seinen zerstörten Wohnwagen plündern wollte. Die juristische Debatte und massiver Druck der NRA sorgten dafür, dass das Landesparlament ein "Stand Your Ground Law" schuf, ein "Stehe-deinen-Mann-Gesetz" - mit den Stimmen von Republikanern wie Demokraten. Das Gesetz unterzeichnete der damalige Gouverneur Jeb Bush, Bruder des Präsidenten George W. Bush.

Seither ist es in Florida erlaubt, schon bei "gefühlter" Angst zu schießen. Befürworter sprechen von der "Burg-Doktrin", nach der Redensart "Mein Haus ist meine Burg". Kritiker sprechen vom "Recht-auf-Mord-Gesetz".

Die Vertreter der Waffenlobby sehen auch nach Martins Tod keinen Grund zur Kehrtwende. "Jedes Mal, wenn es einen ungünstigen Vorfall gibt, macht die Anti-Waffen-Lobby sofort das Gesetz verantwortlich", sagte sein damaliger Initiator, der republikanische Ex-Landessenator Durell Peaden, der Zeitung "USA Today" jetzt. "Es erfüllt seinen Zweck und funktioniert gut."

Erfolg der Waffenlobby

Wie gut funktioniert es? Ein Maßstab ist die Zahl der "gerechtfertigten Tötungen" - also der Tötungsfälle, bei denen die Täter ungestraft davonkommen. Die hat sich in Florida seither mehr als verdoppelt - von 43 (2005) auf 105 im Jahr 2009. Die Jahre danach sind statistisch noch nicht erfasst.

Floridas Gerichte legen die "Burg-Doktrin" - offiziell "Statut 776.013(3)" - extrem locker aus. Als 2008 ein 15-jähriger Schwarzer ins Kreuzfeuer zweier Gangs geriet, beriefen sich die drei Angeklagten auf Notwehr - mit Erfolg.

Vergleichbare Gesetze gibt es in mindestens 23 weiteren Staaten - darunter Texas, Arizona, Oklahoma, Kansas, die meisten Südstaaten und die meisten Staaten im Mittleren Westen. Selbst in moderaten Staaten wie New York und Kalifornien erlaubt die Rechtslage den Notwehr-Schuss in den eigenen vier Wänden.

In Colorado und anderswo heißt das fragliche Gesetz auch "Make My Day Law" - nach einem berühmten Zitat Clint Eastwoods aus dem Film "Dirty Harry kommt zurück" (1983). "Go ahead, make my day" (in etwa: "Na los, mach mich glücklich") sagt sein Held Harry Callahan da. Er hält dem Schurken, der eine Geisel bedroht, die Kanone ins Gesicht. Gib mir einen Grund, dich zu erschießen, soll das heißen. Der Verbrecher gibt schließlich auf.

"Diese verdammten Nigger"

Die Gesetze sind die reinste Erscheinungsform des NRA-Mantras vom freien Waffenbesitz für alle Amerikaner. Dank der Schießlobby sind die Restriktionen immer weiter gelockert worden. Selbst nach Martins Tod setzte die NRA ihre Arbeit im Kongress weiter fort. Zur Debatte steht da gerade ein brandneues Gesetz, das die Vorschriften noch weiter verwässern soll.

Mit am einfachsten ist der Kauf einer Waffe in Florida. Fast eine halbe Million Menschen haben dort eine Schießlizenz, darunter, wie die Zeitung "Sun-Sentinel" 2007 herausfand, 1400 verurteilte Straftäter. Einer der Waffenbesitzer ist Zimmerman, der Martin mit einer 9-mm-Pistole erschoss, die er legal bei sich führte.

Über Zimmerman haben die Medien in den letzten Tagen mehr Suspektes herausgefunden als die Polizei seit Martins Tod. So sei er bekannt dafür gewesen, mutmaßlichen Übeltätern hinterherzujagen. 2005 sei er nach einer Rauferei festgenommen worden. Eine Ex-Freundin habe ihn der Gewalt beschuldigt.

Einer der Notrufe, die Zimmerman während seiner Konfrontation mit Martin tätigte, enthielt offenbar auch ein rassistisches Schimpfwort. "These fucking coons", scheint Zimmerman da zu sagen: "Diese verdammten Nigger." Es waren Reporter, die das enthüllten - die Polizei gab nachträglich an, das "überhört" zu haben.

Was nichts änderte: Auch die Nacht zum Freitag verbrachte Zimmerman in Freiheit.

Korrekur: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, Harry Callahan habe im Film "Dirty Harry kommt zurück" einen Dieb erschossen, nachdem er seinen berühmten Satz "Go ahead, make my day" sagt. Tatsächlich gibt der Täter auf und wird nicht erschossen. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.

Mehr lesen über

Verwandte Artikel

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren