
Leichenfunde von Long Island New Yorks Fahnder jagen den Dünenkiller
Es begann mit einem Schrei im Morgengrauen. Gus Coletti, 76, rasierte sich gerade, als jemand wie wild gegen seine Haustür schlug und brüllte. Draußen stand eine junge Frau, voller Angst, ein Handy umklammert. Sie trug Jeans, eine Bluse und eine Lederjacke, ein Tattoo mit kleinen Kirschen am linken Handgelenk. "Helfen Sie mir!", flehte sie. Coletti rief die Polizei, doch die junge Frau rannte wieder fort.
In etwa zur gleichen Zeit ging bei der Behörde ein panischer Notruf ein. Eine weibliche Stimme rief: "Hilfe, er will mich umbringen!" Das Telefonat brach ab, offenbar wurde die Anruferin in ein Auto gezerrt.
In beiden Fällen handelte es sich um dieselbe Frau: Shannan Gilbert. Sie wurde an jenem 1. Mai 2010 zum letzten Mal lebend gesehen - in Oak Beach, einer windigen Wohnsiedlung am Atlantik, auf einer Landzunge vor Long Island. Die 24-Jährige aus New Jersey hatte die Nacht bei Joseph Brewer, einem Nachbarn Colettis, verbracht. Mit ihrem Verschwinden, beteuerte Brewer, habe er nichts zu tun.
Shannan Gilbert wollte Schauspielerin werden, verdiente sich ihren Unterhalt aber als Prostituierte. Sie bot ihre Dienste im Internetdienst Craigslist an, über den sie auch Brewer kennengelernt hatte. Wie so oft in Fällen von vermissten Prostituierten brauchte die Polizei ziemlich lange, um der Sache nachzugehen.
Zunächst suchten die Ermittler eher sporadisch nach Gilbert - es sollte der Auftakt zu einem der größten Kriminalfälle in der Region New York werden. Am 11. Dezember 2010 entdeckte ein Spürhund in den Marschen unweit von Oak Beach ein Frauenskelett, eingewickelt in einen Leinensack. Zwei Tage später stießen die Cops auf die Überreste von drei weiteren Leichen, genauso verpackt. Weitere gruselige Funde folgten in diesem Jahr, im März und April.
Inzwischen wurden zehn Tote am Strand von Long Island entdeckt (siehe unten). Shannan Gilbert ist nicht darunter.

Karte der Leichenfunde: An zehn Stellen machten die Fahnder grausige Entdeckungen
Foto: SPIEGEL ONLINEWie eine Episode von "CSI"
Mindestens fünf der Opfer sind Frauen. Vier sind identifiziert, alle waren Prostituierte, die über Craigslist Kontakte knüpften. Die Überreste lagen an der Küste von Jones Beach Island, einer vorgelagerten Düneninsel, zwischen Zach's Bay und Cedar Beach, wo der ganze Alptraum anfing.
Ein ganzes Heer von Fahndern ist dem "Long Island Killer" auf der Spur. Doch selbst nach einem Jahr stehen sie weiter vor einem Rätsel. Geht tatsächlich ein Serienmörder um auf Long Island, jener zersiedelten Vorstadtinsel nordöstlich von New York City? Oder ist das Sommerrefugium der New Yorker zum Müllplatz für Mörder geworden?
Der Fall könnte einer US-Krimiserie entstammen: "Law and Order", "CSI", "Criminal Minds". Ein oder mehrere Killer mit Methode, die ihr Spiel treiben mit den Fahndern, während sich der Nachtdunst über die einsamen Dünen legt, in denen sonst die Pärchen turteln.
Mehr als 125 Polizisten und Detektive sind auf der Suche nach dem Täter. Sie durchkämmen die Uferzonen zu Fuß oder zu Pferd. Sie überfliegen das Gebiet in Hubschraubern. Ausgerüstet mit Stiefeln, Schaufeln, Handschuhen, Heckenscheren und GPS-Navigation wühlen sie sich am Boden durch die Vegetation. Hinzu kommen Profil-Analytiker des FBI, Forensikexperten und der New Yorker Gerichtsmediziner, der sein Labor in Manhattan zur Verfügung gestellt hat.
Die jüngsten Überreste fanden sich am Montag im Bezirk Nassau, der an die Region Suffolk angrenzt, wo die bisherigen Leichen auftauchten. Ein Spürhund stieß im Unterholz auf Knochenreste in einer schwarzen Plastiktüte. Wenige Stunden später entdeckte ein Polizist eine Meile weiter östlich, im Naturschutzgebiet John F. Kennedy Bird and Wildlife Sanctuary, im Sand einen Schädel.
Tödliche Rendezvous auf Long Island
"Wir hatten bereits acht in Suffolk, jetzt haben wir zwei mehr", sagte Detektiv Kevin Smith lakonisch. "Es ist alles sehr alarmierend."
Alarmierend - und zusehends verwirrender. Die ersten vier Funde hatten noch eine klare Verbindung: Die Toten waren Prostituierte, die Leichen in Leinensäcken verpackt, abgelegt im Abstand von je rund 150 Metern und etwa 15 Meter entfernt vom Ocean Parkway, einer Schnellstraße. Alle waren erwürgt worden.
Alles deutete auf ein klares Muster hin. Gleiche Methode, gleicher Ort, gleiche Entsorgung. Dann wurde auf einmal alles wieder komplizierter.
Die später entdeckten Überreste lagen weiter westlich, weiter weg von der Straße, teils gar nicht verhüllt. Eines der Opfer war ein rund fünfjähriges Kind, sonst waren die Leichen aber nicht zu identifizieren: "Wir wissen ihr Geschlecht nicht, wir wissen ihr Alter nicht, wir wissen gar nichts über sie", sagte Suffolk-Polizeichef Richard Dormer frustriert.
Haben diese Funde etwa nichts mit den früheren zu tun? Sind also doch mehrere Täter am Werk?
Nur die ersten Fälle lassen sich bisher klar rekonstruieren. Es handelt sich um vier Prostituierte, die zwischen Juli 2007 und September 2010 verschwanden: Megan Waterman, 22, Melissa Barthelemy, 24, Maureen Brainard-Barnes, 25, und Amber Lynn Costello, 27. Sie waren für ihre Craigslist-Rendezvous extra nach Long Island gereist.
Anruf vom Wegwerf-Handy
Besondere Qualen erlitt die Familie von Melissa Barthelemy. Barthelemy hatte am 10. Juli 2009 einen Freier besucht, anschließend 900 Dollar auf ihr Konto eingezahlt und versucht, einen Ex-Freund anzurufen - das letzte Lebenszeichen.
Vier Tage später bekam Melissas 16-jährige Schwester Amanda einen Anruf - von Melissas Handy. Am anderen Ende: ein Mann, der sie verhöhnte, ihr aber auch das Gefühl gab, Melissa lebe noch. "Es war sehr beängstigend", sagte Amanda dem TV-Sender ABC. "Mein Herz stand still, und ich wusste nicht, was ich tun sollte."
Es folgten weitere Anrufe, von Prepaid- oder Wegwerf-Handys. Die Polizei verfolgte sie zu belebten Orten in New York City zurück, darunter der Times Square und der Madison Square Garden - Methoden, um Spuren zu verwischen, Fahnder abzuschütteln und unterzutauchen.
Die US-Medien spekulieren seitdem, dass der Täter selbst ein Polizist sein könnte, weil er Kriminalmethoden beherrscht. Doch sind das auch Tricks, die längst jeder kennt, der regelmäßig Krimiserien im TV guckt.
Neue Spur nach Atlantic City
Die Prostituierten der Region fürchten sich. Schließlich ist es nicht das erste Mal, dass sie im Visier von Killern stehen. In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurden im Großraum New York Hunderte von ihnen ermordet. "Es fühlt sich an, als herrsche offener Krieg gegen diese Bevölkerungsgruppe", sagte die Aktivistin Sienna Baskin der "New York Times". "Ich glaube, dass sich alle Sexarbeiterinnen deshalb verwundbar fühlen."
Aber auch unter den Menschen auf Long Island geht die Angst um. Laura Coletti, die Frau des Rentners Gus Coletti, spaziert nicht mehr am Ocean Parkway entlang. Die Immobilienpreise in den Dörfern sind zusammengebrochen.
Eine der neuesten, spannendsten Spuren führt jetzt nach Atlantic City, das verstaubte Spielerparadies an der Küste New Jerseys, drei Autostunden weiter südlich. Dort waren 2006 vier Prostituierte ermordet worden. Die Leichen wurden ähnlich abgelegt - ein Fall, der für viel Wirbel sorgte, aber bis heute ungelöst ist.
Kim Raffo, eines der damaligen Opfer, hatte fünf Wochen auf Long Island verbracht, bevor sie einen Bus nach Atlantic City bestieg - und dort verschwand. "Es ist derselbe Kerl", zitierte die immer gut informierte "New York Post" einen Ermittler.
Shannan Gilbert, die so verzweifelt durch Oak Beach rannte, bleibt verschollen. Mutter Mari Gilbert klammert sich daran, dass das Verschwinden ihrer Tochter zumindest zum Fund der anderen Opfer geführt hat. "Jeder hat seine Bestimmung, vielleicht war das ihre", sagte Gilbert der "Times". "Ich hoffe trotzdem, dass sie nach Hause kommt."