Linksextremismus-Prozess in Dresden Spähte Lina E. einen Tatort aus?

Angeklagte Lina E. im Gericht in Dresden: von Unterstützerinnen mit Applaus begrüßt
Foto: Jens Schlüter / AFPDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Drei Angeklagte erscheinen an diesem Prozesstag in T-Shirts mit der Aufschrift: »Free Lina«. Der Vorsitzende Richter ruft die Verteidigerinnen und Verteidiger in sein Zimmer. Danach müssen die »Free Lina«-Forderungen verschwinden. Lennart A., Jannis R. und Philipp M. ziehen ihre T-Shirts aus. Erst danach wird Lina E. am Donnerstag in den Hochsicherheitssaal des Oberlandesgerichts (OLG) Dresden geführt. Seit einem Jahr ist sie in Untersuchungshaft, ihre Mitangeklagten sind auf freiem Fuß.
Von ihrer Mutter, ihren Freunden und Unterstützerinnen wird Lina E. mit Applaus begrüßt. Für sie ist die 26-Jährige eine aufrechte Antifaschistin, die von der Bundesanwaltschaft zur Terroristin stilisiert wird. Lina E. lächelt und winkt durchs Sicherheitsglas in den Zuschauerbereich. Sollte ihr die lange U-Haft etwas ausmachen, dann ist es ihr nicht anzumerken. Vor Gericht schweigt sie.
Lina E. und die drei Mitangeklagten müssen sich seit September vor dem Staatsschutzsenat des OLG Dresden verantworten. Laut Anklage sollen sie zu einer kriminellen, linksextremen Vereinigung gehören, die seit August 2018 Jagd auf tatsächliche oder vermeintliche Neonazis gemacht und mehrere Menschen brutal zusammengeschlagen hat. Für die Bundesanwaltschaft gehört Lina E. zu den Köpfen der Gruppe.
»Nakam« steht für »Nazis kaputt machen«
Lina E. studierte Erziehungswissenschaften an der Universität Halle-Wittenberg, strafrechtlich ist sie bisher nicht in Erscheinung getreten. Anders als Johann G., 27, der laut Anklage auch zur Gruppe gehören soll und wegen linksmotivierter Straftaten schon im Gefängnis saß. Seit dem Sommer 2020 ist Johann G. untergetaucht. Lina E. und Johann G. gelten den Behörden als Paar.
Am Mittwoch und am Donnerstag legten die Ermittler nun im Gerichtssaal Belege vor, die Lina E. und die anderen Angeklagten belasten. Ein Beamter des Landeskriminalamtes (LKA) Sachsen hat eine Speicherkarte ausgewertet, die in der Wohnung von Lina E. in Leipzig lag. Er sagt als Zeuge aus, der Beamte gehört zur »Soko LinX«, einer Sonderkommission, die versucht, linksextreme Gewalttaten aufzuklären.
Das Gericht zeigt einige Fotos im Saal. Zu sehen ist eine Werkshalle mit Straßenbahnwaggons, auf einem Bild schaut Johann G. aus einem Waggon in die Kamera. Er trägt ein Gucci-Basecap, auf seinen Fingern ist ein »Hate Cops«-Tattoo zu erahnen. Der Waggon ist mit Graffiti besprüht. Einer der Schriftzüge lautet: »Nakam Crew«. Die Ermittler recherchierten in den Sozialen Netzwerken, sie fanden einen Instagram-Account mit demselben Namen. Die Fotos, die dort gepostet werden, zeigen vor allem ein Motiv: den Schriftzug »Nakam«. Mal auf Wände, mal auf Mauern, mal auf Züge gesprüht.
Taucht einer der Angeklagten im »Neuen Deutschland« auf?
Der Vorsitzende Richter fragt den LKA-Mann nach der Bedeutung des Wortes »Nakam«. »Nazis kaputt machen«, sagt er. So werde es im Profil des Instagram-Accounts erklärt. Ein Verteidiger von Lina E. hakt nach, ob dem Polizisten eine »historische Organisation« dieses Namens bekannt sei. Nein, antwortet dieser, eine solche Gruppe kenne er nicht.
Tatsächlich existierte nach 1945 eine Gruppe jüdischer Holocaust-Überlebender, die nach dem systematischen Massenmord der Nazis Vergeltung üben wollte. Als »Nakam«-Gruppe wurde sie bekannt . Nakam ist hebräisch und bedeutet Rache.
Der LKA-Mann spricht auch von einem Zeitungsartikel, erschienen im Juli 2019 im ehemaligen SED-Blatt »Neues Deutschland«. Darin geht es um einen »Noam«, der über seine Zeit im Gefängnis spricht und Gewalt gegen Rechte als legitime Antwort auf »rassistische Hetze« rechtfertigt. Der Mann, der im Artikel beschrieben werde, sei Johann G., sagt der Ermittler. Auf Fotos zum Artikel ist kein Gesicht zu sehen, aber Finger mit einer »Hate Cops«-Tätowierung und eine Gucci-Basecap.
Die Ermittler fanden weitere Fotos in der Wohnung von Lina E. und in ihrem Auto. Darauf sind Lina E. und Johann G. zu sehen, einzeln und gemeinsam, auch im Urlaub in Albanien. Hinweise auf Flugtickets für eine entsprechende Reise im September 2018 fand der LKA-Mann in den E-Mails von Lina E.
Ein rosa Pullover auf dem Armaturenbrett
Ein weiterer Ermittler zeigt ebenfalls Fotos von einer Speicherkarte aus der Wohnung von E. Diese zeigen eine Straße von Leipzig in Richtung Wurzen in Sachsen und eine kleine Straße nahe eines Sportplatzes in Kühren bei Wurzen. Die Bilder wurden offenkundig vom Beifahrersitz eines fahrenden Autos aufgenommen, auf dem Armaturenbrett liegt ein rosafarbener Pullover. Laut Metadaten entstanden die Fotos am 7. August 2018. Zweieinhalb Monate später, am 30. Oktober, wurde Cedric S. gegen 19 Uhr in Kühren von mehreren Vermummten brutal zusammengeschlagen . Er war auf dem Weg zum Fußballtraining und ist Mitglied in der Jugendorganisation der NPD.
Die Bundesanwaltschaft ist überzeugt, dass es Lina E. war, die im Auto saß und den späteren Tatort ausspähte.