NRW-Innenminister zum Fall Lügde Polizeiversagen, das fassungslos macht

Beamte der Spurensicherung auf Campingplatz in Lügde
Foto: Guido Kirchner/ dpaDiese Sitzungen zehren an ihm, man sieht es Herbert Reul inzwischen an. Der nordrhein-westfälische Innenminister knetet seine Hände, als er am Donnerstag im Innenausschuss des Landtags in Düsseldorf einen Bericht über die Vorfälle in Lügde abgeben muss. Mehr als 30 Kinder, von denen die meisten zwischen vier und 13 Jahre alt sind, wurden offenbar über Jahre auf einem Campingplatz in dem kleinen Örtchen in der Nähe von Detmold missbraucht. Drei Tatverdächtige sitzen seit Dezember in Untersuchungshaft.
Es ist bereits der zweite Auftritt Reuls dazu im Ausschuss. Ende Februar hatte der CDU-Politiker zum ersten Mal von Ermittlungsfehlern bei der Polizei berichtet, von verschwundenen und übersehenen Beweisen und einem schlecht gesicherten Tatort. Schon damals hörten ihm die Parlamentarier der Landtagsfraktionen mit offenen Mündern zu.
Seit heute ist klar: Im Fall Lügde geht das Kopfschütteln weiter. Als Reul auf Seite 15 seines Redemanuskripts angekommen ist, räuspert er sich kurz. Dann sagt er: "Ich muss Ihnen hier noch von einem weiteren Fall berichten."
Anfang Dezember 2018 wurde Andreas V. verhaftet, ein arbeitsloser Dauercamper und der Hauptbeschuldigte im Missbrauchsfall von Lügde. Für die Aufklärung war zunächst die Kreispolizeibehörde Lippe zuständig. Dort gründete man die Ermittlungskommission "Camping".
Soko-Leiter soll Beweise beiseite geschafft haben
Nun kommt heraus: Der Soko-Leiter soll bei früheren Fällen, für die er zuständig war, Beweise manipuliert und möglicherweise beiseite geschafft haben. So berichtet es Reul. Es geht um den Verdacht der Strafvereitelung im Amt und des Siegelbruchs in mehreren Fällen. So kamen bei zwei Ermittlungen des Kripobeamten aus den Jahren 2015 und 2016 wichtige Beweise abhanden - so wie jetzt auch im Missbrauchsfall von Lügde.
In einem weiteren Fall geht es ebenfalls um eine Sexualstraftat. Auch im Zuge dieses Verfahrens hat sich offenbar herausgestellt, dass "dringend benötigte Asservate nicht auffindbar sind und so unter Umständen ein Tatnachweis nicht mehr zu führen ist", wie Reul sagt.
Zwischen allen Fällen gebe es "nicht unwesentliche Berührungspunkte", erklärt der Innenminister. Mit anderen Worten: In der Kreispolizeibehörde in Lippe kam es zuletzt immer wieder vor, dass Beweismittel spurlos verschwinden. Die Ermittlungen zum Missbrauchsfall in Lügde sind da offenbar keine Ausnahme.
"Es wird immer haarsträubender"
Das Polizeipräsidium Bielefeld übernahm im Januar die Ermittlungen. Dabei fiel auf, dass 155 CDs und DVDs fehlten, die bei Andreas V. auf dem Campingplatz sichergestellt worden waren. Ein Kommissaranwärter in Lippe hatte die Datenträger im Dezember gesichtet, obwohl er dafür nicht qualifiziert war.
Danach brachte er sie nicht in die Asservatenkammer zurück. Wer dem Auszubildenden den Auftrag gab, die Beweise durchzuarbeiten, war bislang ungeklärt. Er selbst konnte sich auf Nachfragen von Sonderermittlern nicht daran erinnern.
Auch diesbezüglich gibt es seit heute eine neue Spur. Laut Reul war der Beamte, dem nun Strafvereitelung und Siegelbruch vorgeworfen wird, der Tutor des Kommissaranwärters. Der frühere Soko-Chef ist inzwischen ins Kriminalkommissariat Bad Salzuflen versetzt worden, seine ehemalige Behörde in Lippe hat Strafanzeige gegen ihn gestellt und Anfang März ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Reul sagt, dass er gegen den Polizisten "die vorläufige Dienstenthebung" veranlasst habe.
"Wenn jemand diese Vorgänge in ein Drehbuch für einen Film geschrieben hätte, dem wäre gesagt worden: Diese Geschichte ist so hanebüchen, das kannst du nicht machen", sagt der innenpolitische Sprecher der SPD im Landtag, Hartmut Ganzke. "Es wird immer haarsträubender hier, es ist nicht mehr nachvollziehbar. Und die große Gefahr, die ich jetzt sehe, ist, dass Täter ungestraft davonkommen. Wenn das passiert, ist der Rechtsstaat erschüttert."
Nichts ist mehr auszuschließen
Bei der Aufklärung des Falls scheint nichts mehr ausgeschlossen. Fast jede Woche wird neues Polizeiversagen bekannt, drei Beamte aus der Führung der Polizei Lippe wurden bereits versetzt. Gegen zwei weitere Polizisten laufen Strafverfahren, weil sie frühe Hinweise auf den Kindesmissbrauch nicht an die Staatsanwaltschaft Detmold weitergeleitet haben sollen.
Die Zahl der Taten und Täter steigt, die Dimension des Verbrechens ist monströs. Die Beamten in Bielefeld werten inzwischen 3,3 Millionen Bilder und fast 90.000 Videos aus, die bei den verhafteten Männern sichergestellt worden sind. In der besonderen Aufbauorganisation "Eichwald" sind rund 60 Polizisten beschäftigt, die bislang fast 500 Ermittlungsspuren nachgehen. Als im Dezember noch die Kollegen in Lippe ermittelten, kümmerten sich zunächst nur vier Beamte um den Fall.
Warum er so lange und so dramatisch unterschätzt wurde? Eine von vielen offenen Fragen.
Inzwischen steigt auch die Zahl der Opfer, bislang gingen die Ermittler von 31 betroffenen Kindern aus. Im Ausschuss sagt Reul, dass drei neue Opfer hinzugekommen seien. Zu 14 weiteren Personen bestehe außerdem eine "entsprechende Verdachtslage". Es gehe dabei um Kinder, die auf den Bildern und in den Videos zu sehen seien, aber noch nicht identifiziert werden konnten. Bei den Geschädigten handele es sich um Mädchen und Jungen. "Alle werden durch Opferschutzmaßnahmen betreut", sagt Reul.
"Das ist keine Opferschutzmaßnahme"
Die Worte des Ministers klingen so, als würden sich Experten um die betroffenen Kinder und Eltern kümmern, als wäre für die Traumatisierten gesorgt. Eine Darstellung, der Roman von Alvensleben jedoch widerspricht. Der Hamelner Rechtsanwalt vertritt ein zehnjähriges Mädchen, das von Andreas V. missbraucht worden sein soll.
"Meine Mandantin und ihre alleinerziehende Mutter wurden von den Behörden bislang absolut allein gelassen", sagt von Alvensleben dem SPIEGEL. "Sie bekommen zwar jetzt Hilfe, aber nur durch unsere Eigeninitiative." Die Mutter habe sich selbst um einen Seelsorger kümmern müssen. Von Alvensleben sagt, dass er bei Gericht beantragt habe, dass seine Mandantin wenigstens eine psychosoziale Prozessbegleiterin bekommt.
"Es geht hier schon um über 30 Missbrauchsopfer", sagt der Anwalt, "da hätte ich erwartet, dass jemand sagt: Wir stellen euch eine speziell geschulte Psychologin oder einen Psychologen zur Verfügung, und zwar Tag und Nacht, und dass das dann auch von den Behörden bezahlt wird. Es reicht nicht, eine Telefonnummer einer Beratungsstelle weiterzugeben. Das ist keine Opferschutzmaßnahme."
Seine Mandantin hat bereits im Oktober 2018 bei der Polizei ausgesagt. Allerdings wird sie nun nochmals von den neuen Ermittlern aus Bielefeld vernommen. Bei der ersten Befragung, sagt von Alvensleben, seien Fehler gemacht worden. Der Beweiswert der Aussagen des Mädchens habe durch die schlechte Fragetechnik der Polizei abgenommen.
"Meiner Mandantin sind im Nachgang noch Details eingefallen. Allein das zeigt doch: Es wurde nicht richtig gemacht", kritisiert er. Beamte werden heute speziell ausgebildet, um minderjährige Missbrauchsopfer zu vernehmen. Eine Polizistin in Lippe war auch entsprechend geschult, aber in die Befragungen der Kinder nicht eingebunden. Warum? Vielleicht wird Innenminister Reul das dann in der nächsten Ausschusssitzung beantworten können.