Für Axel Peters läuft der Countdown. Noch knapp 18 Monate, dann könnte er seinen Posten als Direktor des Amtsgerichts Ribnitz-Damgarten in Mecklenburg-Vorpommern los sein - weil es das Gericht dann nicht mehr gibt. Grund dafür ist eine Reform, gegen die viele Juristen und Bürger Sturm laufen.
Im Oktober 2013 hatte der Landtag mit den Stimmen der Großen Koalition das Gesetz zur Gerichtsstrukturreform verabschiedet. Kernstück: Von ursprünglich 21 Amtsgerichten werden fünf geschlossen und sechs weitere zu Zweigstellen anderer Standorte gemacht. Die Reformgegner wollen das Projekt mit einem Volksentscheid am Sonntag kippen - dem ersten, der in Mecklenburg-Vorpommern aus dem Volk initiiert wurde.
Der Streit wirft weitreichende Fragen auf, auch deshalb ist die Aufregung groß. Wie reagiert die Politik auf den Bevölkerungsschwund in ländlichen Regionen? Wie die Justiz? Und was bedeutet es für Kommunen, wenn das Amtsgericht, in den meisten Fällen die erste gerichtliche Anlaufstation, als Symbol des Rechtsstaats aus dem Ortsbild verschwindet?
Laut Mecklenburg-Vorpommerns Justizministerin Uta-Maria Kuder (CDU) ist die Reform notwendig, um Gerichte leistungsfähig und effizient zu halten. Nicht das Amtsgericht um die Ecke sei entscheidend, sondern, dass die Gerichte ihre Aufgaben erfüllen könnten, sagte sie der "Schweriner Volkszeitung".
Dazu braucht es ausreichend große Einheiten, sagt Ministeriumssprecher Tilo Stolpe: Das verhindere Ausfälle durch Urlaub oder Krankheit, weil genügend Richter als Vertreter vorhanden seien. Mit mehr Kollegen pro Standort könnten sich Richter spezialisieren und mit Fachanwälten Schritt halten. Und der Bürger bekomme schneller Entscheidungen.
Dem Ministerium zufolge spart die Reform auch Geld, 36 Millionen Euro über 25 Jahre. Der Staat zahle weniger Miete; zudem müsse man marode Gebäude nicht mehr sanieren.
Effizienz, besserer Service, Einsparungen - es wäre verwunderlich, wenn diese Versprechungen nicht andere Regierungen interessieren würden. Auch deswegen hat die Reform so viel Sprengkraft. "Das wird eine Blaupause für andere Bundesländer sein, hundertprozentig", sagt Peters, der auch Vorsitzender des Richterbundes Mecklenburg-Vorpommern ist.
"Die Bürger haben das Gefühl, dass der Staat sie verlässt"
Martin Lorentz, Vorsitzender des Landesanwaltverbands Mecklenburg-Vorpommern, sieht in der Reform eine Schwächung des Rechtsstaats und befürchtet wirtschaftliche Folgen. "Das ist ein Signal an die Bürger: Wir brauchen bei euch kein Amtsgericht mehr - wie wollen Sie da Unternehmen ansiedeln?"
"Die Justiz verabschiedet sich aus der Fläche", prognostiziert Peters. "Das bewirkt ein Ausbluten der ländlichen Regionen. Die Bürger haben das Gefühl, dass der Staat sie verlässt. In diese Lücken stoßen sehr schnell radikale Kräfte wie die NPD."
Im Ministerium hält man den Abschied von einer bürgernahen Justiz für ein unbegründetes Schreckensszenario. "Der Rechtsstaat hängt nicht am Leerstand eines Amtsgerichtsgebäudes", sagt Stolpe. Richter Peters widerspricht. Es entstünden die größten Amtsgerichtsbezirke Deutschlands. Teilweise müssten Bürger mehr als hundert Kilometer zu Gerichtsterminen fahren. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln müsse man mindestens eine Tagesreise einplanen. "Manche werden sich ihr Recht nicht holen, weil sie den Aufwand scheuen."
Und die Einsparungen? 36 Millionen Euro über 25 Jahre liegen bei einem geplanten Haushalt von knapp acht Milliarden Euro im Promillebereich. "Da gibt es praktisch keine Einsparungen, aber Flurschäden für Bürger und Gerichte. Und Arbeitsplatzverluste an den betroffenen Standorten sind gar nicht eingepreist", sagt Peters.
Reformgegner wie Peters und Lorentz legen Wert darauf, dass sie nicht grundsätzlich gegen Veränderungen sind, Schließungen von Gerichten inklusive. Aber den aktuellen Reformplan halten sie für inakzeptabel.
Im März 2014 starteten der Landesrichterbund und der Verein Pro Justiz deshalb ein Volksbegehren gegen das Gesetz. Trotz des eher sperrigen Themas sammelten die Initiatoren weit mehr als die notwendigen 120.000 Unterschriften. Das zwang den Landtag, sich erneut mit dem Gesetz zu beschäftigen. Ergebnis der Debatte: weiter so. Nun muss der Volksentscheid die Entscheidung bringen. Am Sonntag dürfen rund 1,34 Millionen Bürger abstimmen.
Reformgegner bescheinigen der Regierung "Arroganz der Macht"
Wie umstritten die Sache ist, zeigt schon das Gezänk um die Formulierung des Stimmzettels: Wer gegen die Gerichtsreform ist, muss "Ja" ankreuzen, wer dafür ist, "Nein". "Da ist Aufklärung notwendig, aber daran beteiligt sich die Landesregierung nicht. Unter lupenreiner Demokratie stelle ich mir etwas anderes vor", sagt Lorentz.
Die "Arroganz der Macht" zeigt sich für den Anwalt in einem weiteren Punkt: Nachdem die Reformgegner mit dem Volksbegehren erfolgreich waren, setzte der Landtag die Pläne nicht bis nach dem Volksentscheid aus. Einige Reformschritte sind inzwischen vollzogen. "Das ist eine Missachtung der Demokratie, dass man den Bürgerwillen ins Leere laufen lässt und Fakten schafft", sagt Lorentz.
Diese Fakten müsste die Regierung wieder rückgängig machen, wenn der Volksentscheid erfolgreich ist. Für Ministerin Kuder würde die Justiz auf "den Stand von 1998 zurückgeworfen". Deshalb käme der Regierung eine geringe Beteiligung gelegen.
Denn um die Reform zu kippen, muss nicht nur die Mehrheit der Teilnehmer "Ja" ankreuzen. Diese Mehrheit müsste auch mindestens einem Drittel der Abstimmungsberechtigten entsprechen, also etwa 447.000 Menschen. Zum Vergleich: Bei der Landtagswahl 2011 bekamen die Regierungsparteien SPD und CDU zusammen knapp 400.000 Stimmen.
"Die Landesregierung setzt darauf, dass der Bürgerwille ins Leere läuft, weil nicht genügend Leute hingehen", sagt Lorentz. Letztlich müsse sich zeigen, von wem die Macht im Land tatsächlich ausgehe: vom Volk - oder von der vom Volk gewählten Regierung.