Gefechte nach Festnahme von "El Chapos" Sohn Das Parallelregime der Gangster in Mexiko

Rauchwolken über dem Tatort im mexikanischen Culiacán
Foto: Augusto Zurita/APEs waren Bilder, wie man sie aus den Bürgerkriegen in Nahost kennt: Dutzende Pritschenwagen, viele mit aufgepflanzten Maschinengewehren, rasten durch die Straßen von Culiacán, der Hauptstadt des mexikanischen Bundesstaats Sinaloa.
Vermummte Schützen feuerten von den Autos, sie errichteten Straßensperren, kontrollierten die wichtigsten Ausfallstraßen und den Zugang zum Flughafen, der vorübergehend gesperrt wurde. Anwohner warfen sich in Panik auf den Boden oder suchten Zuflucht in Häusern und Geschäften. Die Gangster steckten Busse und Lastwagen in Brand, über der 700.000-Einwohner-Metropole stiegen Rauchsäulen auf. Dutzende Häftlinge nutzten das Chaos, um aus dem Gefängnis der Stadt zu flüchten.
Guzmán López wird wegen Drogenhandel und Geldwäsche gesucht
Mehrere Stunden lang belagerten die Milizen des mächtigen Sinaloa-Kartells des in den USA inhaftierten Drogenbosses Joaquín "El Chapo" Guzmán die Stadt in der Nähe der Pazifikküste. Sie waren aus den umliegenden Bergen gekommen, in denen "El Chapo" und seine Familie zu Hause waren und wo vermutlich Ismael Zambada García, genannt "El Mayo Zambada", sein Hauptquartier hat, der gefürchtete Boss des Kartells. Er galt bereits zu El Chapos Zeiten als der eigentliche Strippenzieher der Organisation.
"El Mayo Zambada" hatte seine Mördertruppen nach Culiacán geschickt, um Ovidio Guzmán López zu befreien, einen der Söhne von "El Chapo". Der war kurz zuvor zusammen mit vier Kumpanen von einer Militärpatrouille in einem Vorort von Culiacán festgenommen worden. Der Gangster wird wegen Drogenhandels und Geldwäsche gesucht.
Doch seine Verhaftung war von kurzer Dauer: Die Milizen des Sinaloa-Kartells umzingelten offenbar die Regierungstruppen, sie waren weitaus zahlreicher und besser bewaffnet als die Soldaten. Um ein Blutbad zu vermeiden, ließen die Soldaten den Gangster und seine Kumpanen auf Befehl ihrer Vorgesetzten wieder laufen. Daraufhin stellten auch die Killertrupps des Kartells das Feuer ein und zogen sich zurück.
"Die Situation war sehr schwierig, weil das Leben vieler Menschen auf dem Spiel stand", rechtfertigte Präsident Andrés Manuel López Obrador die Entscheidung am Freitagmorgen. "Die Festnahme eines Verbrechers kann nicht wertvoller sein als das Leben der Menschen."

Brennende Autos nach Gefecht zwischen Sicherheitskräften und Drogen-Milizen
Foto: STR/EPA-EFE/REXMexiko blickt auf Tage der Gewalt zurück
Edgar Buscaglia, Sicherheitsexperte an der amerikanischen Columbia-Universität, pflichtet dem Staatschef bei: Wenn der Gegner übermächtig sei, würde "jeder Soldat in der Welt" einen Gangsterboss freilassen, um "ein Massaker zu vermeiden". Der Staat habe vor den Kriminellen "kapituliert", kritisierte dagegen der Kolumnist Salvador García Soto in der Zeitung "El Universal".
Nur in einem sind sich die Experten einig: Wie die Regierung auf die Ereignisse dieser Woche reagiert, wird für die Zukunft des Regierungsprojekts des Linken López Obrador entscheidend sein. Denn die Ereignisse von Sinaloa sind der Höhepunkt einer Welle der Gewalt, die die gesamte Sicherheitspolitik der Regierung in Frage stellt.
- Am Montag massakrierten Bewaffnete 13 zum Teil noch sehr junge Polizisten im Bundesstaat Michoacán, die eine Zeugin zu einem Gerichtstermin eskortieren sollten. In den ausgebrannten und zerschossenen. Polizeiautos hinterließen die Mörder Plakate, auf denen sie sich als Auftragskiller des Kartells "Jalisco Neue Generation" (CJNG) ausweisen, der neben dem Sinaloa-Kartell mächtigsten Verbrecherorganisation Mexikos.
- Zwei Tage später kam es im Bundesstaat Guerrero unter bislang ungeklärten Umständen zu einer Schießerei zwischen der Polizei und Bewaffneten, bei denen 15 Zivilisten und ein Polizist starben.
Wenn die Entwicklung so weiter geht, wird das erste Regierungsjahr des Linken López Obrador zum blutigsten seit Beginn des Drogenkriegs im Jahr 2006.
Der Präsident macht bislang seine Amtsvorgänger für die Hunderttausenden im Drogenkrieg Gefallenen verantwortlich. Der Konservative Felipe Calderón, der von 2006 bis 2012 regierte, habe eine Epoche der Gewalt eingeleitet, die immer noch andauere. Calderón hatte das Militär in den Kampf gegen die Kartelle geschickt, daraufhin war die Gewalt im Land explodiert.

Tödliche Gewalt: Tatort Mexiko
López Obrador verfolgt eine entgegengesetzte Linie: Man dürfe "Feuer nicht mit Feuer bekämpfen", verkündet er immer wieder. Er reist als Friedensapostel durchs Land, "Umarmungen statt Schießereien" ist seine Devise. Mit Sozial- und Ausbildungsprogrammen will er arbeitslosen Jugendlichen eine Alternative zu den materiellen Verlockungen der Verbrecherbanden bieten. Im Gespräch ist zudem eine Amnestie für Kleinverbrecher.
Verbrecherkartelle gehen immer geschickter vor
Zur Bekämpfung der Kriminalität hat López Obrador eine neue Truppe aufgestellt, die Nationalgarde. Sie besteht im wesentlichen aus Soldaten und ehemaligen Polizisten. Statt gegen die Mafia vorzugehen, entsandte die Regierung allerdings viele Nationalgardisten jedoch erstmal an die Grenzen: Sie sollen die illegale Migration in die USA bekämpfen.
Auch Leute, die López Obrador sympathisch gesonnen sind, halten seine Sicherheitspolitik für unentschieden und naiv. Aber welche Alternativen gibt es?
Alle Rezepte zur Bekämpfung der Drogengewalt sind bislang gescheitert. Trotz der Festnahme und Auslieferung von "El Chapo" ist das Sinaloa-Kartell offenbar so mächtig wie nie zuvor. Es sei zu einer internationalen Organisation mit Ablegern in über 70 Staaten herangewachsen, so die Journalistin Anabel Hernández, Autorin mehrerer Bücher über die Drogenkartelle. Als mindestens ebenso mächtig gelten seine Konkurrenten vom Kartell CJNG, das seinen Sitz im Bundesstaat Jalisco hat.
Wie multinationale Konzerne haben die mexikanischen Verbrecherkartelleihre Aktivitäten diversifiziert: Sie finanzieren sich mit Schutzgelderpressungen und Entführungen, betreiben illegale Minen und kontrollieren den Handel mit synthetischen Drogen, die weitaus mehr Geld bringen als Marihuana oder Kokain.
Die Regierung hat diesen Kraken des Verbrechens nur wenig entgegenzusetzen: Längst haben die Kartelle Polizei und Behörden unterwandert, sie sind besser bewaffnet als die Sicherheitskräfte der Regierung. In vielen ländlichen Regionen des Landes haben sie eine Art Parallelregime errichtet.
Hinzu kommt, dass die verschiedenen Sicherheitsbehörden oft untereinander konkurrieren und dilettantisch vorgehen. Die Festnahme des Sohns von "El Chapo" sei "voreilig" erfolgt und "schlecht geplant" gewesen, bekannte das Sicherheitskabinett des Präsidenten.
Die Festnahme sei auf Druck der amerikanischen Drogenbehörde DEA zustande gekommen, schreibt der gewöhnlich gut unterrichtete Journalist Raymundo Riva Palacio in der Zeitung "El Financiero", DEA-Agenten sollen auch an der Aktion beteiligt gewesen sein.
Das dürfte die Diskussion über den Einfluss der Amerikaner auf Mexikos Drogenkrieg anheizen. Und es wird ein Thema neu entfachen, das selbst beim großen Nachbarn im Norden mittlerweile immer mehr Zuspruch findet: die Forderung nach der kontrollierten Freigabe von Rauschgift.