Missbrauchsverdacht in Kinderklinik Schatten über Sylt
Hamburg - Das Haus "Quickborn" in Westerland auf Sylt: Es riecht nach Meer, die Brandung der Nordsee rauscht an den breiten Sandstrand, an dem einige Spaziergänger zwischen Westerland und Wenningstedt dem Regenwetter trotzen.
Hier, wo andere Menschen nur an Urlaub denken, betreibt die Deutsche Angestellten Krankenkasse (DAK) eine Kinderkurklinik. Bis zu 64 Mädchen und Jungen im Alter zwischen acht und 16 Jahren kommen zu sechswöchigen Abspeck-Programmen zusammen. Kinder, die sich falsch ernähren, die gehänselt werden, die Probleme haben mit ihrem Gewicht.
Im Haus "Quickborn", so das Ziel der Therapie, lernen sie ihren Körper besser kennen, können laut DAK "gesundheitsbewusste Denk- und Lebensweisen" ausprobieren.
Insgesamt 58 Mitarbeiter, davon 40 ausgebildete Fachleute wie Erzieher, Psychologen, Therapeuten und Sportlehrer kümmern sich rund um die Uhr um die kleinen Patienten. Es gibt ein Schwimmbad, eine Bibliothek, in der Versuchsküche werden Ernährungskurse abgehalten, in der Disco Partys gefeiert.
Mitten in diese Idylle platzte am Dienstagmorgen die Schlagzeile der "Bild"-Zeitung: "Sex-Skandal in Kinderklinik auf Sylt!" Und weiter: "Zwölf Jungen (9 bis 13) von Gleichaltrigen vergewaltigt".
Was das Blatt dann berichtet, will so gar nicht zur Jugendherbergsatmosphäre der DAK-Einrichtung passen. Von Sexspielen ist die Rede, von drei Jungen, die mehrere weitere Kinder dazu gezwungen haben sollen, Zärtlichkeiten auszutauschen. Weil die Mutter eines der mutmaßlichen Opfer inzwischen Anzeige erstattet hat, ermittelt jetzt die Staatsanwaltschaft Flensburg in dem Fall.
Alle Kinder waren jünger als 14 Jahre
Klar scheint bislang lediglich: Alle beteiligten Kinder waren zum fraglichen Zeitpunkt am 6. August jünger als 14 Jahre und sind damit nach deutschem Recht nicht strafmündig. Auf die Frage, ob eine Verletzung der Aufsichtspflicht stattgefunden habe, sagte Oberstaatsanwältin Ulrike Stahlmann-Liebelt: "Wir ermitteln in alle Richtungen."
Die DAK trifft der Vorfall schwer. Berichte über Sexspiele in einer Kinderklinik - es gibt nichts, was den Ruf einer Therapie-Einrichtung stärker untergraben könnte. Zumal die Öffentlichkeit durch mehrere Vorfälle in den letzten Wochen für das Thema sensibilisiert ist. Erst im Juli waren schwere sexuelle Übergriffe in einem Feriencamp auf der Nordseeinsel Ameland bekannt geworden. Dort sollen im Jungenschlafsaal des Ferienlagers sechs bis acht 13-jährige Jungen mit Gegenständen sexuell missbraucht worden sein.
Seit 2003 betreibt die Krankenkasse das Haus "Quickborn" auf Sylt, jedes Jahr kommen rund 500 Kinder zur Behandlung, nie habe es Beanstandungen gegeben, so DAK-Sprecher Rüdiger Scharf, 48.
Der DAK-Sprecher sagte allerdings, dass es am 6. August zu sexuellen Übergriffen innerhalb einer Wohngruppe von 16 Jungen im Alter von neun bis 13 gekommen sein soll. In der Ruhephase ab 21 Uhr, wenn sich die Kinder normalerweise auf ihre Vierbettzimmer zurückziehen, um dort noch zu lesen oder Musik zu hören, bis das Licht um 21.30 Uhr ausgeknipst wird, hätten sich 14 Jungen auf einem Zimmer verabredet.
Betreiber spricht von "erweiterten Doktorspielen"
Was dort passiert ist, beschreibt der DAK-Sprecher als "erweiterte Doktorspiele". Von Flaschendrehen ist die Rede, aber auch von sexuellen Handlungen wie Oralverkehr. Jeder sei Täter und Opfer zugleich gewesen. Zwei der Kinder hätten Schmiere gestanden, um rechtzeitig Alarm zu geben, falls die beiden Nachtwachen der Klinik etwas von den Vorgängen auf dem Zimmer bemerken würden.
Worauf Scharf Wert legt: "Nach unseren Erkenntnissen haben keine Vergewaltigungen stattgefunden."
Bereits am nächsten Tag seien die mutmaßlichen Rädelsführer im Alter von neun, elf und 13 Jahren von der Gruppe getrennt und nach Hause geschickt worden. Man habe sofort Polizei und Staatsanwaltschaft eingeschaltet. Ferner seien alle Eltern von dem Vorfall informiert worden, verbunden mit dem Angebot, ihre Kinder zu besuchen oder gegebenenfalls nach Hause zu holen.
Laut DAK keine Spuren einer Vergewaltigung
Lediglich eine Mutter habe von dem Angebot Gebrauch gemacht und ihr Kind aus der Einrichtung geholt, so Scharf. Es handelt sich dabei um dieselbe Frau, die inzwischen Anzeige erstattet hat. Scharf: "Ihr Kind wurde unmittelbar nach dem Vorfall in der Ambulanz einer anderen Klinik untersucht, dabei wurden keine Spuren einer Vergewaltigung festgestellt."
Alle anderen Kinder hätten ihre Abspeck-Kur wie geplant zu Ende geführt. Psychologen und Therapeuten hätten ihnen dabei geholfen, die verstörenden Geschehnisse der fraglichen Nacht zu verarbeiten.
Laut dem Bielefelder Anwalt Carsten Ernst, an den sich Eltern der mutmaßlichen Opfer gewandt hatten, stehe man erst am Beginn der ganzen Geschichte. "Wenn man die Stellungnahme der DAK liest, kann man nur den Kopf schütteln", sagte Ernst. "Da wird nun alles kleingeredet. Aber wer einen Analverkehr als erweitertes Doktorspiel betitelt, der hat den Sinn für die Realität verloren."
Ernst kündigte an, sich mit der Klinik in Verbindung zu setzen, um Schadens- und Schmerzensgeldansprüche geltend zu machen.
Die Staatsanwaltschaft Flensburg prüft derweil, ob und in welcher Form ein strafrechtlich relevantes Verhalten vorliegt. Zunächst würden mögliche Betroffene gehört, um letztendlich zu klären, was wirklich in der Nacht passiert sei, so die Oberstaatsanwältin. Und das kann dauern. Stahlmann-Liebelt: "Wir sind noch ganz am Anfang."