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Österreich: Grausiger Verdacht in St. Peter am Hart

Foto: HERWIG PRAMMER/ REUTERS

Missbrauchsverdacht in Österreich Das verwundete Dorf

Jahrzehntelang soll sich Gottfried W. an seinen beiden Töchtern vergangen haben - doch nach außen wahrte der heute 80-Jährige den Schein des braven Familienvaters. Besuch in einem Ort, der nun mit der Erkenntnis ringt: Böses geschah wohl gleich nebenan.

In dem Krämerladen an der Hauptstraße wispern zwei Frauen an der Wursttheke. Ihre Haare sind kurz und blond, sie tragen bunte Sommerkleider und zischeln: "Ja, aber es waren seine Töchter, mein Gott, seine Töchter", entrüstet sich die eine, die etwas größer ist und schwerer. "Das hätte ich wirklich nie gedacht", sagt die andere, "dass der so etwas tun könnte."

St. Peter am Hart ist ein kleiner Ort, gerade einmal 2400 Menschen leben hier, und mal abgesehen davon, dass der örtliche Fußballverein zuletzt Meister der 2. Klasse Südwest wurde, geschieht in dieser oberösterreichischen Postkartenidylle wenig, worüber sich vor Schinken, Salami und Rinderbraten intensiv zu sprechen lohnte.

Doch jetzt sind die Einwohner des Dorfs mit einem Verdacht konfrontiert, der ihre Vorstellungskraft zu übersteigen droht. Gut, es gab in Österreich schon den Inzestfall von Amstetten und die gefangene Natascha Kampusch, aber das geschah für jemanden aus St. Peter am Hart in ziemlicher Entfernung, vielleicht sogar in einer anderen Welt.

Hinter der Kirche links, dann rechts, am Ende einer Stichstraße, in diesem großen, einst schmucken Bauernhaus mit der Nummer 12, vor dem nun zwei Hühner umherirren und einige Journalisten, soll es geschehen sein: Hier soll der inzwischen 80-jährige Gottfried W. seine beiden Töchter Christine, 53, und Erika, 45, mehr als vier Jahrzehnte lang missbraucht haben. Der Rentner, der inzwischen im Gefängnis sitzt, bestreitet die Vorwürfe.

"Ich bin früher mit ihm tanzen gegangen", erzählt Agathe Roitner, 79. "Er war ein schüchterner Mann, einer, der nie frech geworden ist." Die Familie habe später eher zurückgezogen gelebt, die Kinder hätten das Haus selten verlassen. "Wir hätten uns das wirklich nie vorstellen können." Auch der Pfarrer der örtlichen Gemeinde, Severin Lakomy, sagt: "Wir sind vollkommen schockiert." Es fehlten noch die richtigen Worte, um zu erklären, was geschehen sei. "Wir werden Zeit brauchen."

Die Töchter mussten der Mutter versprechen, "nichts zu sagen"

Nach ersten Erkenntnissen der Ermittler, die auf den Aussagen der mutmaßlichen Opfer beruhen, soll sich der Mann bereits 1970 zum ersten Mal an seinen Kindern vergangen haben, danach kam es offenbar regelmäßig zum Missbrauch. Obwohl das große Haus reichlich Wohnfläche bietet, hätten sich die Töchter meist nur in einem Raum aufgehalten - auf Geheiß des Vaters. Auf einer kleinen Holzbank in der Küche mussten demnach beide schlafen.

Die Frauen seien so eingeschüchtert gewesen, dass sie die Misshandlung über sich ergehen ließen, so die Ermittler. Mit körperlicher Gewalt und Todesdrohungen habe sie der mutmaßliche Täter gefügig gemacht, der legal zwei Gewehre besaß. Erika und Christine hätten sogar ihrer vor drei Jahren verstorbenen Mutter Berta noch auf dem Totenbett versprechen müssen, "nichts zu sagen", wie österreichische Zeitungen unter Berufung auf eine Strafanzeige berichten.

Christine und Erika seien "sehr abhängig von ihrem Vater" und "sozial völlig isoliert" gewesen, sagte Bezirkspolizeikommandant Martin Pumberger. Laut Polizei waren sie geistig behindert. Anwohner berichten, die Frauen seien wohl nicht eingesperrt gewesen, sondern hätten sich zuweilen im Ort sehen lassen. Von ihrer Mutter konnten sie aber offenbar keine Hilfe erwarten, auch sie wurde wohl misshandelt.

Dass die Frauen nicht die Flucht ergriffen, sei erklärbar, sagte die Psychiaterin Adelheid Kastner dem ORF: "Das Gefängnis dürfte im Kopf gewesen sein." Der Vater habe offenbar mit Drohungen so großen Einfluss ausgeübt, dass die Schwestern keinen Ausbruch wagten. "Wenn man zum einen bedroht wird und zum anderen sich selbst nicht die Kompetenz zutraut, draußen in der Welt zurechtzukommen, dann kann dieses manipulative Einsperren sehr effizient sein", so die Expertin.

"Ich bin sehr betroffen darüber, dass so etwas passieren kann", sagte der Bürgermeister der Gemeinde. Nie habe es Gerüchte gegeben, auch Nachbarn hätten keinen Verdacht gegen den Mann gehegt, der viele Jahre bei der Straßenmeisterei gearbeitet habe. Und der nach dem Tod der Mutter gerichtlich bestellten Betreuerin der Töchter fiel offenbar ebenfalls nichts Ungewöhnliches auf.

Der Rentner zog in ein Pflegeheim

Nur zufällig gelangte der Fall daher an die Öffentlichkeit. Als Gottfried W. sich Anfang Mai 2011 erneut an einer Tochter vergehen wollte, setzte sie sich laut Staatsanwaltschaft zur Wehr. Sie habe ihren Peiniger gestoßen und dieser sei gestürzt. Er habe nicht aufstehen und selbst keine Hilfe herbeirufen können, so ein Behördensprecher. Die Frauen ließen den angeblich unbekleideten Rentner liegen - zwei Tage lang.

Erst eine herbeitelefonierte Sozialarbeiterin habe die ärztliche Versorgung Gottfried W.s veranlasst, teilten die Behörden mit. Die Frau erstattete demnach auch Anzeige, nachdem sich die Töchter ihr anvertraut hatten - zunächst jedoch war wohl nur von psychischer und physischer Gewalt des Vaters die Rede.

Doch das genügte einem Bezirksgericht. Es untersagte W., sich seinem Haus für eine Dauer von sechs Monaten zu nähern. Der Rentner zog in ein Pflegeheim nach Braunau. Und erst als der Vater nicht mehr in ihrer Nähe war, scheinen die Schwestern die Kraft gefunden zu haben, sich der Betreuerin vollkommen anzuvertrauen. Gottfried W. wurde festgenommen.

Die Staatsanwaltschaft begründete die Maßnahme mit dem Verdacht der Körperverletzung, des Quälens oder Vernachlässigens unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen, der gefährlichen Drohung, der Nötigung, der Vergewaltigung und weiterer sexueller Delikte gegen wehrlose Personen. Am Freitagmittag wurde Haftbefehl gegen den 80-Jährigen erlassen - bislang stehe aber Aussage gegen Aussage, sagte Polizist Pumberger.

Gottfried W. scheint seinen Töchtern immer noch nichts ersparen zu wollen.

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