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Österreich: Schrecklicher Verdacht in der Idylle

Foto: HERWIG PRAMMER/ REUTERS

Missbrauchsverdacht in Österreich Eine schrecklich normale Familie

Unauffällig, zurückhaltend, freundlich - Bekannte und Verwandte beschreiben den mutmaßlichen Inzesttäter aus Oberösterreich als sympathischen Nachbarn und guten Vater. Und doch soll sich der Rentner mehr als 40 Jahre lang regelmäßig an seinen beiden Töchtern vergangen haben.

Ja, was für ein Mensch ist sein Bruder eigentlich? Hans Walter* überlegt einen Moment lang, man sieht ihm an: Diese Frage stellt er sich mittlerweile selbst häufig. Vielleicht quält ihn der Gedanke, nichts bemerkt zu haben, nichts geahnt von dem, was sich in dem oberösterreichischen Örtchen abgespielt haben soll: Jahrzehntelang habe sich Gottfried W. dort an seinen beiden Töchtern vergangen, sagt die Polizei. Der heute 80-Jährige bestreitet das.

"Ein ganz ruhiger Typ, zurückhaltend und freundlich ist der Friedl", sagt Walter, 73, schließlich. In der Großfamilie mit ihren insgesamt zehn Kindern sei er jedoch immer schon ein Außenseiter gewesen, einer, der sich lieber mit vielen Freunden umgab, als die Nähe seiner Geschwister oder der Eltern zu suchen. Spät habe Gottfried geheiratet, und Bertha aus dem Tanzkurs sei zwar eine gute Partie gewesen, weil ihre Familie Geld hatte und Land, doch Liebe, sagt Walter, sei dabei keine im Spiel gewesen.

Dennoch kamen im Abstand von acht Jahren zwei Mädchen auf die Welt, Christine und Erika. Es seien hübsche Kinder gewesen, berichtet ihr Onkel, aber sie waren auch unbeholfen, schüchtern und offenkundig geistig behindert. "Ein bisschen angeschlagen", nennt Walter das.

Ihre Mutter behütete sie sehr, zumindest schien es Außenstehenden so. Innerhalb der zurückgezogen lebenden Familie schützte Bertha die Töchter jedoch wohl nicht. Sie sollen vom Vater laut Polizei nicht nur missbraucht, sondern auch bedroht und eingeschüchtert worden sein.

"Es war schwer, mit ihnen in Kontakt zu kommen"

Die Mädchen verließen das Elternhaus jedenfalls nur selten - und kaum jemand im Ort hinterfragte diese geschlossene Gemeinschaft in all den Jahren. So war sie eben, die Familie W., etwas seltsam, aber sie gehörte dazu.

"Ich habe sie ein bisschen gekannt", sagt Pfarrer Severin Lakomy und meint Christine und Erika. "Sie waren bei der Adventsfeier und bei Krankensonntagen. Es war schwer, mit ihnen in Kontakt zu kommen", fügt er hinzu: "Sie haben mehr mit den Augen gesprochen als mit dem Mund." Niemandem vertrauten sie sich an, niemandem erzählten sie von den Dingen, die in dem Einfamilienhaus in der 2400-Seelen-Gemeinde hinter verschlossenen Türen wohl vor sich gingen.

In den offiziellen Registern tauchen die Namen der Frauen auf - "sie sind auch gefirmt", sagt der Pfarrer, der seit 18 Jahren die Gemeinde betreut. Christine und Erika besuchten als Kinder eine normale Volksschule und dann eine Sonderschule, eine Ausbildung machten sie nicht. Es heißt, der Vater habe das nicht gewollt. Allmählich verschwanden sie aus dem Bewusstsein des Ortes.

"Es ist schwer zu definieren, inwieweit sie abgeschottet wurden oder im Ort isoliert waren", sagt Sicherheitsdirektor Alois Lißl. "Sie wurden sicher von der Gesellschaft eher ignoriert." Man habe angenommen, dass sich die Familie für die zurückgebliebenen Kinder schäme, sagen Nachbarn. Gesucht habe den Kontakt aber niemand, auch nicht Verwandte, die am Ort wohnten, oder Schulkollegen, sagt der Pfarrer. Man lebte zwar all die Zeit dicht beieinander und glaubte sich zu kennen, doch in private Angelegenheiten mochte sich doch niemand einmischen.

Bekannte beschreiben mutmaßlichen Täter widersprüchlich

"Es gibt mehr Familien, die eher wenig Sozialkontakte pflegen", so Psychiaterin Adelheid Kastner im ORF. "Und es wäre vermessen zu sagen, jeder, der sich nicht ausgedehnt sozial vernetzt, verbirgt etwas." Wenn die Betroffenen selbst keine Hinweise gäben, sei auch ein solcher Extremfall von außen nicht erkennbar.

Auch Rudolf Seidl, 70, der mit dem mutmaßlichen Inzesttäter seit Jahren befreundet ist und auch in dessen Haus verkehrte, gibt sich ahnungslos. Er habe W. noch am Mittwoch im Pflegeheim besucht, erzählt der Rentner, und der sei "frisch und fröhlich" gewesen. "Ich glaube, der wusste noch gar nicht, was da auf ihn zukommt." Einen Tag später nahm die Polizei Gottfried W. fest.

Ihm sei nie etwas Besonderes aufgefallen, wenn er bei W. in der Küche gesessen habe, sagt Seidl. Mit den Töchtern habe er gescherzt. Einmal habe er gesagt, als ein Bekannter ihn begleitet hatte, er habe jemanden mitgebracht, der in die Familie einheiraten wolle und da hätten sie alle sehr gelacht. "Ich ahnte ja nicht …" Seidl beendet den Satz nicht.

An der Tankstelle, wo Gottfried W. am Stammtisch regelmäßig seinen Viertel trockenen Weißwein trank, bleiben die Auskünfte spärlich und widersprüchlich. Einmal wird der langjährige Straßenarbeiter, der klein und hager sein soll, als "äußerst gesellig und lustig" beschrieben, dann als "Eigenbrötler". In seinem Haus, das nur ein paar hundert Meter entfernt liegt, will niemand je gewesen sein.

Töchter "waren nicht in der Lage, ihr alltägliches Leben zu organisieren"

Nur Mitarbeiter der Sozialdienste kamen hinein. Nach Bertha W.s Tod im Jahr 2008 erhielten die Töchter einen Betreuer. "Sie waren nicht in der Lage, ihr alltägliches Leben zu organisieren", so Sicherheitsdirektor Lißl. Einkäufe und Erledigungen hätten Helfer übernommen. Und einmal in der Woche ging auch W. in den Kaufmannsladen neben der Tankstelle - und kochte sonntags für seine "Dirndl".

Eine Betreuerin fand schließlich im Mai den nackten und hilflosen Vater am Boden der Küche. Er konnte nicht alleine aufstehen und seine Töchter halfen ihm nicht. Sie hätten ihn sterben lassen wollen, sollen die Frauen gesagt haben und gaben erste Hinweise auf Gewalttätigkeiten. Gottfried W. wurde in ein Pflegeheim gebracht.

Es folgten Vernehmungen, die Behörden nahmen W. sein Gewehr und seine Pistole ab, der Kontakt zu den Töchtern wurde ihm untersagt. Und erst da, Anfang August, sprachen die Schwestern erstmals von sexuellen Übergriffen. An diesem Freitagmittag erging dann ein Haftbefehl gegen den 80-Jährigen.

Jetzt seien Gutachter am Zug, sagt der Beamte Lißl. Die Frauen, gegen die wegen unterlassener Hilfeleistung ermittelt wird, sollen von einem Psychologen befragt werden, um ihre Glaubwürdigkeit festzustellen. In bisherigen Polizeivernehmungen hätten die Schwestern "alles verstanden, sie waren orientiert und offen", so Lißl.

Und was für ein Mensch ist Gottfried W. nun?

"Ich weiß es nicht", sagt der Bruder, "ich weiß es nicht mehr." Und Rudolf, der Freund und Nachbar, zuckt mit den Schultern.

*Name geändert

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