Ermittlungen gegen Lehrer Tödliche Klassenfahrt

Ein 13 Jahre altes Mädchen aus Mönchengladbach stirbt während einer Klassenfahrt in London. Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen vier Lehrer. Wer trägt Schuld am Tod der jungen Diabetikerin?
Emilys Grab

Emilys Grab

Foto: privat

Kay Schierwagen sitzt vor der breiten Fensterfront in der Kanzlei seines Anwaltes im Duisburger Hafen und blickt aufs Wasser. Er sinnt nicht auf Rache. Er weiß, auch Vergeltung wird ihm seinen Schmerz nicht nehmen können. Seine Tochter Emily ist tot. Sie wurde 13 Jahre alt. Irgendwie muss Kay Schierwagen wieder zurück ins Leben finden.

Bis zur Beerdigung am 14. Juli dachten er und Emilys Mutter, ihr Kind sei an den Folgen seiner Diabeteserkrankung gestorben. Auch wenn sie das nicht wahrhaben wollten. Die Autoimmunkrankheit hatte in Emilys Leben kaum eine Rolle gespielt, so routiniert sei sie damit umgegangen. So berichten es ihre Eltern.

"Emily wusste: Ohne Insulin geht gar nichts"

Emily war sieben Jahre alt, als sie eines Morgens aufwachte, kreidebleich. Ihre Mutter brachte sie ins Krankenhaus und schnell stellten die Ärzte fest: Emily hat Diabetes, Typ 1, der Körper des Mädchens produzierte kein Insulin.

Es habe nur wenige Wochen gedauert, bis Emily im Krankenhaus in Mönchengladbach richtig eingestellt war. Danach wusste das Kind, welches Essen ihm guttut, welches schadet; Emily achtete offenbar penibel darauf, tat nichts Unbedachtes, verwendete ihrer behandelnden Ärztin zufolge vorbildlich ihre Insulinpumpe und nahm die Erkrankung in all den Jahren klaglos an.

"Emily wusste: Ohne Insulin geht gar nichts", sagt ihr Vater. Alle drei Monate sei ihr Gerät ausgelesen, der Wert überprüft worden. "Ihr letzter Langzeitwert lag bei 5,9, das ist traumhaft."

Die Eltern reisen sofort nach London

Am 26. Juni fährt Emily mit ihrer Klasse nach London. Drei Tage später wird sie ins Great Ormond Street Hospital eingeliefert, sie hat einen Blutzuckerspiegel von 1470. Normal ist ein Wert von ungefähr 120. Steigt der Spiegel an, kann das lebensgefährlich sein: Das Blut verklumpt, das Herz wird langsam.

Glückliche Erinnerungen: Emily mit ihrem Vater auf einem Familienfoto

Glückliche Erinnerungen: Emily mit ihrem Vater auf einem Familienfoto

Foto: privat

Emilys Eltern werden informiert. Sie reisen noch am selben Tag nach London. Die Klinik, spezialisiert auf Kindermedizin, liegt im Stadtteil Bloomsbury. Als die Eltern an Emilys Bett sitzen, ist ihr Zustand stabil, erinnert sich der Vater. Ihr Blutzuckerspiegel sei auf 300 abgesunken. "Sie hat gemerkt, dass wir da sind."

Sie müsse noch bis Dienstag in der Klinik bleiben, teilen die Ärzte den Eltern mit, danach könne sie nach Hause reisen. Es ist Sonntag. Der Vater fährt zurück nach Deutschland, er muss wieder arbeiten; die Mutter bleibt bei Emily. Beide denken, ihr Kind sei auf einem guten Weg. Um 15 Uhr dann der Anruf aus dem Great Ormond Street Hospital auf Kay Schierwagens Handy: Emily habe einen zweiten Herzinfarkt erlitten und sei vor etwa einer Stunde gestorben.

Zweifel auf der Beerdigung

Die Eltern vermuten zu diesem Zeitpunkt, der Tod der Tochter sei eine Folge ihrer Diabeteserkrankung. "Ein natürlicher Tod", sagt Kay Schierwagen in der Kanzlei in Duisburg. "Wir hätten kein Aufheben gemacht, es war schlimm genug."

Doch auf der Beerdigung erfahren Emilys Eltern von anderen Eltern, was deren Kinder ihnen nach der Rückkehr aus London erzählt haben: Emily sei es bereits kurz nach der Ankunft in der Londoner Unterkunft schlecht gegangen, am Nachmittag des 27. Juni. Die anderen Schüler hätten die Lehrer gesucht, aber keinen finden können. Alle vier Lehrer und rund 80 Schüler aus verschiedenen Jahrgängen waren im selben Jugendhotel untergebracht.

Wo waren die Aufsichtspersonen?

Am zweiten Tag, dem 28. Juni, hätten sie erneut die Betreuer auf Emilys Zustand aufmerksam gemacht, sagen die Jugendlichen. Sie hätten ihnen berichtet, dass es dem Mädchen "saudreckig" gehe, dass sie sich "ununterbrochen übergebe", dass sie sie zum Klo führen müssten, dass sie sie gewaschen, ihr die Zähne geputzt, ihr schließlich einen Eimer ans Bett gestellt hätten und ihr die Haare halten würden, wenn sie spucken müsse.

Bis zum Vormittag des 29. Juni habe sich keine der vier Aufsichtspersonen bei Emily im Zimmer blicken lassen, vertrauten die Kinder ihren Eltern an. Sie hätten am Ende eine Art Stallwache organisiert, weil sie auch was von London sehen wollten - aber auch aus Angst um Emily.

"Wir passen die ganze Zeit auf sie auf"

Einen Beweis für die Glaubhaftigkeit der Aussagen hat Kay Schierwagen auf seinem Handy. Er zögert. Es ist eine Sprachnachricht von Sarah*, die sich mit Emily in der Jugendherberge in London ein Zimmer teilte. Sarah schickte die Botschaft an ihre Mutter. Es ist der 29. Juni, 10.36 Uhr. "Guten Morgen, wir werden bei Emily bleiben müssen. Sie übergibt sich permanent, nimmt fast nichts zu sich, sie ist nicht in der Lage, zu reden. Sie kann sich nicht einmal alleine aufsetzen. Wir passen die ganze Zeit auf sie auf. Die Lehrer sagen, wir sollen bei Emily bleiben, aber sie sackt uns permanent weg. Die haben doch die Aufsichtspflicht. Was, wenn sie uns hier komplett wegsackt?"

Sarah sendete die Audiodatei, damit ihre Mutter mit Emilys Mutter Kontakt aufnehmen und um Rat bitten konnte. Emilys Mutter rief auf dem Handy der Tochter zurück, Sarah nahm ab. Emily sei zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage gewesen, zu sprechen, sagt das Mädchen. Weitere Schüler hätten sich im Zimmer befunden, darunter ein Junge, dessen Großvater ebenfalls Diabetiker ist.

Auf Bitte von Emilys Mutter sollte der Mitschüler Emilys Blutzuckerwert messen. Als er damit begonnen habe, sei die Klassenlehrerin im Zimmer erschienen, habe das Handy konfisziert, das Gespräch unterbrochen und sämtliche Schüler aus dem Zimmer geschickt. So erzählen es die Jugendlichen. Kurz darauf alarmierte die Lehrerin den Rettungsdienst. Emily erlitt im Anschluss einen ersten Herzinfarkt.

Ein vergeblicher Rettungsversuch

Der Anwalt der Eltern, Klaus Voßmeyer, stellte Strafanzeige gegen die vier Lehrer, die als Aufsichtspersonen die Reise begleitet haben. Er wirft ihnen unter anderem fahrlässige Tötung vor. Ihnen dürfte eine Garantenstellung zukommen, sagt Voßmeyer. Bei dem Wissen um Emilys Diabeteserkrankung und den sich über lange Zeit erstreckenden Hinweisen und Handlungsaufforderungen der Mitschüler, die Emily betreuten, sagt der Anwalt, könne man nicht ausschließen, dass die Lehrerin möglicherweise sogar vorsätzlich gehandelt hat.

Als Beleg führt der Anwalt von Emilys Familie ein Foto an, das zeigt, in welch geschwächtem und hilflosem Zustand die Schülerin war; aufgenommen zwei Tage vor ihrem Tod. Das Bild zeigt Emily auf ihrem Bett in der Jugendherberge. Die 13-Jährige liegt auf der Seite, die Hände verkrampft, ihre Brille verschoben.

Die Freundinnen schickten das Foto ihren Eltern, um über die Notlage Emilys zu informieren und Beistand zu bekommen, sagt Voßmeyer. Mit dem Rauswurf der Schulkameraden aus dem Herbergszimmer habe die Lehrerin auch die Hilfeleistung des Jungen, der Emilys Blutzuckerwert messen wollte, unterbunden. "Das war ein vergeblicher Rettungsversuch, ich sehe einen Zusammenhang zu dem erlittenen Herzinfarkt."

Die Ermittlungen dauern noch an

Noch dauern die Ermittlungen an, sagt Staatsanwalt Jan Steils. Zehn Zeugen seien bislang vernommen, die Chatverläufe von Emilys Handy ausgewertet worden. Nach der Auswertung von Krankenhausdokumenten aus London und Deutschland werde ein fachärztliches Gutachten eingeholt.

Aufgrund laufender Ermittlungen könne die Bezirksregierung in ihrer Fürsorgepflicht für Lehrkräfte aktuell keine Angaben zu dem Fall machen, sagt eine Sprecherin. Die Lehrer selbst haben sich bis heute nicht bei den Eltern gemeldet, so erzählt es Emilys Vater. Auch für den SPIEGEL waren sie für eine Stellungnahme nicht erreichbar. Die Schulleitung wollte die Ermittlungen ebenfalls nicht aktuell kommentieren.

Emily wurde am 14. Juli beerdigt.

Ihre Klasse, ihre Freunde, mehr als 300 Menschen kamen, um sich auf dem Friedhof von dem Mädchen zu verabschieden. Sie ließen 300 weiße Luftballons in den Himmel steigen. Es war der letzte Schultag vor den Sommerferien, vor der Trauerfeier wurden in der Schule die Zeugnisse verteilt. Die Lehrerin hatte auch Emilys Zeugnis mitgebracht. Es blieb im Klassenzimmer liegen.


Anmerkung: In einer früheren Version dieses Artikels war von einem Komplettversagen der Bauchspeicheldrüse die Rede. Das ist falsch. Wir haben die Angaben zur Diabetes der Schülerin korrigiert.

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