Mord an Thies F. Gesühnt, nicht vergeben

Überraschende Wende im Fall Thies F. Ein Ehepaar hatte den 29-Jährigen wie einen Sklaven gehalten, ihn misshandelt und getötet - und kam zunächst mit milden Strafen davon. Die Mutter des Opfers kämpfte für einen neuen Prozess - der endete nun mit einem spektakulären Urteil.

Kassel - Der Angeklagte war fassungslos. Mit aufgerissenen Augen und offenem Mund hörte Werner H. zu, als der Richter im Prozess um den Tod des jungen Thies F. das Strafmaß verkündete: Werner H. soll den geistig behinderten 29-Jährigen, der bei der Familie H. lebte, auf grausamste Weise misshandelt und schließlich ermordet haben - aus "niederen Beweggründen".

"Lebenslang" lautet das Urteil, mindestens 15 Jahre wird H. nun wegen der Straftat einsitzen. Im Gerichtssaal wurde dies auch von Prozessbeobachtern mit Überraschung zur Kenntnis genommen - hatte doch selbst die Anklage nur elf Jahre gefordert.

Die Mittäterin Michaela N., mittlerweile von H. geschieden, wurde zu vier Jahren Gefängnis wegen Mordes durch Unterlassen verurteilt.

Für Thies F.s Mutter sind dies bewegende Minuten.

Helga F. hatte für eine Aufhebung eines ersten, sehr milden Urteils gegen den Hauptangeklagten und seine damalige Ehefrau aus dem Jahr 2007 gekämpft - und die Revision schließlich vor dem Bundesgerichtshof (BGH) erstritten.

Das Ehepaar H. aus Nordhessen hatte Thies F. im November 2002 aufgenommen, um dessen Sozialhilfe in Höhe von etwa 500 Euro kassieren zu können.

Bis zum gewaltsamen Tod in der Nacht auf den 7.Juli 2003 sei Thies F. ständig gedemütigt, geschlagen und wie ein Sklave gehalten worden, stellte das Gericht fest.Thies F. habe für den Angeklagten eine "Blitzableiterfunktion" gehabt, so Richter Jürgen Dreyer. Wenn Werner H. wegen Nichtigkeiten ausgerastet sei, habe er seine Wut an Thies F. ausgelassen. Der 29-Jährige musste auch madiges Fleisch essen und Urin seines Peinigers trinken. Freunde des Ehepaares H. hätten den jungen Mann ebenfalls demütigen, quälen und misshandeln dürfen.

Als Behörden eine staatlich angeordnete Betreuung für Thies F. vorbereiteten, wollte Werner H. ihn loswerden, wie es in der Urteilsbegründung heißt.

An einem Sonntag im Juli 2003 eskalierte die Situation. Beim Monopoly kommt es zum Streit, und als die Kinder der H.s heulend aus dem Zimmer laufen, fällt der Blick Werner H.s auf Thies F., der nur noch im Flur auf einem Hocker sitzen darf.

"Was glotzt Du so blöd?", fährt H. ihn an und schlägt seinen Kopf gegen die Garderobe. Er lässt ab, kehrt dann aber zurück und schlägt mit dem Hocker so lange auf den jungen Mann ein, bis der Schemel zerbricht. Zwei, vielleicht auch drei Tage ringt der 29-Jährige mit dem Tod. Als die Familie ihn, um eine falsche Spur zu legen, in Thüringen aussetzen will, stirbt er im Auto. Es ist sein 30. Geburtstag.

"Die Tat war nicht von langer Hand geplant", heißt es in der Urteilsbegründung. "Aber es war Mord, weil der Tod billigend in Kauf genommen wurde."

Der junge Mann sei der Familie H. nichts mehr wert gewesen: Für weitere Sozialhilfe hätte er sich beim Amt vorstellen müssen, aber so, wie F. mittlerweile aussah, abgemagert und mit "Hämatomen in allen Farben", wäre sofort der Verdacht auf die Familie H. gefallen. Werner H. "musste ihn irgendwie loswerden. Und das so, dass Thies F. nicht mehr von seinen Leiden berichten konnte". Also habe Werner H. einfach auf F.s Tod gewartet. "Wenn das kein niederer Beweggrund ist, wissen wir nicht, was ein niederer Beweggrund sein soll", sagte der Richter.

Werner H. habe dann die Idee gehabt, den lebensgefährlich Verletzten auszusetzen. Auf der Fahrt nach Thüringen starb der 29-Jährige. Die stark verweste Leiche wurde dann zwei Wochen später an einem Rastplatz bei Eisenach hinter einem Holzstapel versteckt.

Dass es sich dabei wirklich um ihren Sohn handelte, erfuhr die Mutter Helga F. erst zweieinhalb Jahre später durch eine Genanalyse. Das Urteil nahm sie nun mit "etwas Genugtuung" auf: "Vielleicht kann ich jetzt einen Schlussstrich unter das Verfahren setzen. Vergeben kann ich nicht."

Michaela N., die während der Urteilsverkündung stumm einen Stoffbären knetete, habe sich des Mordes durch Unterlassen schuldig gemacht, stellte das Gericht fest. Sie hatte keine ärztliche Hilfe geholt, obwohl sie überzeugt davon war, dass Thies F. an seinen Kopfverletzungen sterben würde. Ihre Persönlichkeitsstörung und vor allem ihr Geständnis wirkten sich aber strafmildernd aus.

Die Verteidigung von Werner H. kündigte an, in Revision zu gehen.

Der Mord sei letztlich nicht bewiesen gewesen. Michaela N. will ihr Urteil dagegen akzeptieren.

pad/ddp/dpa/AP
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