Morde nach Chat-Flirt "Nach der Tat hat er ganz ruhig geschlafen"

Christian G. flirtete im Internet mit Hunderten von Frauen, knapp 150 will er getroffen haben, zwei hat er getötet. Vor Gericht sagten nun Mutter und Ex-Freundin aus. Sie zeichneten das Bild eines Mannes, der selbst brutalste Gewalt erlebt hatte - aber als "lieb und freundlich" galt.

Essen - Christian G. bemüht sich redlich, seine Freude zu verbergen, aber es gelingt ihm nicht. Erstmals seit seiner Verhaftung im Juni 2008 begegnet er seiner Mutter Bärbel und seinen beiden Geschwistern.

Der 27-Jährige Hamburger ist des Mordes an zwei jungen Frauen angeklagt, die er in Chat-Foren kennengelernt hatte. Unter den Namen "riddick3000" und "rosenboy0207" will er mehr als 300 Frauen kontaktiert, knapp die Hälfte davon persönlich getroffen haben.

Zum fünften Verhandlungstag vor dem Landgericht Essen trägt der korpulente 1,93-Meter-Mann einen anthrazitfarbenen Anzug in Größe 60, darunter ein weißes Hemd, einen schwarzen Pullunder und eine dunkle Krawatte. Die Begegnung mit seinen Angehörigen ist wichtig für ihn - und deren Aussage wichtig für die Urteilsfindung.

Tötete Christian G. seine beiden Internet-Bekanntschaften mit Vorsatz? Oder waren es Taten im Affekt? Hätte er, wie Staatsanwalt Hans-Christian Gutjahr vermutet, weitergemordet, wäre er nicht gefasst worden?

Bärbel S. zeichnete vor Gericht eine traurige, traumatisierende Kindheit nach, die ihr Sohn Christian G. erlebt habe. "Es war die Hölle", sagte die 51-Jährige. Zunächst habe Christians Vater sie "auf Händen getragen", doch als Christian zwei Monate alt war, begann ihr damaliger Mann mit dem Trinken. Im Suff sei er aggressiv geworden, schlug sie brutal, zwang sie zum Geschlechtsverkehr - und verging sich vor den Augen des kleinen Jungen an ihr.

G. will freiwillig ins Heim - ein Wunsch, der ihm erfüllt wird

Einmal soll er Christian sogar geweckt haben, damit das Kind dem brutalen Szenario beiwohnen konnte. "Er stand in der Ecke und weinte, als mir mein damaliger Mann das Nachthemd vom Leib riss und mich aufs Bett warf", sagte Bärbel S., eingehüllt in einen dicken, violetten und mit Kunstpelz verzierten Kapuzen-Anorak. Ihr pausbäckiges Gesicht ähnelt dem ihres ältesten Sohnes. Immer wieder schaut sie ihn an.

Die gebürtige Hamburgerin gewährt Einblicke in einen Ehealltag, in dem Gewalt und Hilflosigkeit miteinander einhergingen. Bärbel S. floh mit Christian aus der Wohnung, trennte sich von seinem unberechenbaren Vater und kehrte doch immer wieder zu ihm zurück: "Ich fiel mehrmals auf ihn rein."

Dem Jungen gegenüber wurde der rabiate Gerüstbauer angeblich nicht handgreiflich. Zu seinem Schutz und weil sie restlos überfordert war, gab Bärbel S. ihren Sohn Christian aber schließlich in ein Heim. Als er Jahre später zu ihr und ihrem mittlerweile dritten Ehemann zurückkehrt, sind Demütigungen nach wie vor an der Tagesordnung. Christian G. leidet unter Sprachstörungen - und dem neuen Partner. Er will freiwillig ins Heim. Ein Wunsch, der ihm erfüllt wird.

Mit 15 Jahren kehrt er erneut zurück zur Mutter, ihrem inzwischen vierten Ehemann und dem jüngeren Stiefbruder Jens. Immer wieder haut Christian G. ab, verkehrt in der Hamburger Techno-Szene. Seine Mutter bekommt von seinem Leben nicht mehr viel mit. "Er hatte schlechten Umgang", sagt sie heute.

Einmal sei Christian von einem Fremden festgehalten und sexuell missbraucht worden, fällt ihr dann plötzlich ein. Wann war das? Wer war der Mann? Gab es ein Ermittlungsverfahren? All das weiß Bärbel S. nicht. Hat sie denn keine Anzeige erstattet? Kopfschütteln.

Auch Christians Halbschwester Manuela, die bei der Urgroßmutter aufwuchs, vermag sich nur vage zu erinnern. Nur einen ihrer wenigen Besuche bei der Mutter, vielleicht den brutalsten überhaupt, hat sie nicht vergessen. "Christians Vater zog unsere Mutter an den Haaren durch die Wohnung, verprügelte sie und vergewaltigte sie vor unseren Augen - am helllichten Tag." Ein Erlebnis, das auch sie geprägt hat: Manuela lebte fünf Jahre auf der Straße, war schwer drogenabhängig. Noch ist der Kampf gegen die Sucht nicht gewonnen.

Eine scheinbar perfekte Beziehung

"Es lief perfekt. Er war lieb, freundlich und hilfsbereit"

"Christian hat als Kind viel gelitten. Vielleicht hängt das, was passiert ist, mit seiner Vergangenheit zusammen", sagte die 31-Jährige am Dienstag vor Gericht, sichtlich mit der Vernehmung überfordert.

Doch die Aggressivität und Gewalttätigkeit seines Vaters findet man bei Christian G. zunächst nicht. Seine Angehörigen beschreiben ihn allesamt als ruhigen, introvertierten Charakter. Nie habe er Gewalt ausgeübt, sagt sein Stiefbruder. Er sei höchstens mal verbal ausfallend geworden, sagt seine Mutter.

Das bestätigte auch G.s ehemalige Verlobte Kathleen S. vor Gericht. "Er war nie aggressiv, hat mich nie bedroht, er wurde mir gegenüber nie laut." Wie die beiden getöteten Frauen hat auch sie Christian G. über die Internet-Seite knuddels.de kennengelernt. Nach wenigen Tagen waren sich beide sicher: Das ist die große Liebe; für Kathleen war es zudem die erste. Nach zwei, drei Wochen Bekanntschaft reiste Christian G. mit zwei Plastiktüten von Hamburg zu ihr nach Magdeburg - und blieb sieben Monate lang.

"Es lief perfekt. Er war lieb, freundlich und hilfsbereit", beschrieb die 22-Jährige den Angeklagten. Gemeinsam zog das Paar nach Hamburg, erhielt Ein-Euro-Jobs und lebte vor sich hin: viel kuscheln, viel essen, viel fernsehen und noch mehr chatten. Sie igelten sich ein, hatten kaum Freunde, gingen nie aus. Davon, dass ihr Freund im Internet mit anderen Frauen Kontakt aufnahm, merkte Kathleen S. nichts.

"Seine Familie zu sehen war für Christian G. sehr berührend"

Die gebürtige Magdeburgerin ahnte weder etwas von Christian G.s Liebesausflug nach Stade, bei dem er seine Internet-Freundin Jessica K. alias "babylove" traf und tötete, noch etwas von seinem Seitensprung mit Regina B. alias "Sonnenscheinregi", die er in Marl umbrachte. Seiner Verlobten Kathleen S. schickte er während seiner Ausflüge mehrere schmalzige Liebesschwüre, per SMS.

Und selbst, als Christian G. wieder leibhaftig vor ihr stand, soll er wie immer gewesen sein: "zärtlich" und "liebevoll". "Er hat auch nach der Tat ganz ruhig geschlafen", sagte Kathleen S. und wischte sich dabei ein paar Tränen fort. G. würdigt sie im Prozess keines Blickes.

Die Familie dagegen sucht an diesem Verhandlungstag G.s Nähe. Angehörige müssen sich an die Besuchszeiten der JVA Essen halten, da die Kosten für die Reise von Hamburg für sie jedoch zu hoch sind, hatte Christian G. im Gefängnis noch kein einziges Mal Besuch. 24 Stunden am Tag hockt er in seiner Zwei-Mann-Zelle, spielt Nintendo und sehnt sich nach der einzigen Stunde Freigang, die er pro Woche hat und während der er im Gefängnishof spazierengehen kann.

"Seine Familie zu sehen, war für Christian G. sehr berührend", sagt sein Verteidiger Burkhard Benecken. "Er ist froh, wenn dieser Prozess vorbei ist und er heimatnah verlegt wird."

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