Mordprozess gegen Erzieherin Tod am letzten Arbeitstag

Angeklagte Sandra M.: »Ungeeignet« für den Beruf der Erzieherin
Foto: Rolf Vennenbernd / dpaSeit 182 Tagen sitzt Sandra M. in Untersuchungshaft. Wachtmeister führen die junge Frau an diesem Dienstag in Saal A100 des Landgerichts Mönchengladbach.
Nichts drang in diesen 182 Tagen nach außen von dem, was M. ihren beiden Verteidigern berichtet hat. Nicht von ihrer Arbeit als Erzieherin in Kindertagesstätten in Krefeld, Kempen, Tönisvorst und Viersen; nicht von ihrem Verhältnis zu den Jungen und Mädchen, die ihr anvertraut waren. Kein Wort zu den Vorwürfen, die die Staatsanwaltschaft Mönchengladbach gegen Sandra M. erhebt: dass sie vier Kinder auf grausame Weise quälte, bis eines von ihnen starb.
Entsprechend groß dürfte die Hoffnung von Gretas, Leos*, Ahmeds* und Fridas* Eltern sein, in diesem Indizienprozess gegen Sandra M. zu erfahren, warum ihre Kinder an einem Ort, an dem sie beschützt werden sollten, solch ein Unheil erfuhren. Die Eltern treten in dem Verfahren als Nebenkläger auf. Zum Teil erscheinen sie an diesem Tag im Gerichtssaal, nehmen Platz neben ihren Anwälten, gegenüber von Sandra M.
Sie sehen eine kleine Person mit dunklen, längeren Haaren, 25 Jahre alt. Ihre Augen sind verweint. Sie kann die Tränen nicht lange zurückhalten. Sandra M. ist angeklagt wegen des Verdachts des Mordes an Greta und der Misshandlung von Leo, Ahmed und Frida.
Der Vorsitzende Richter Lothar Beckers fragt Sandra M.: In Kempen geboren? – Ja. Deutsche Staatsangehörige? – Ja. Nicht verheiratet? – Ja.
Misshandlungen nach festem Schema
Dann trägt Staatsanwalt Stefan Lingens die Vorwürfe gegen Sandra M. vor, die sich zwischen August 2017 und April 2020 in verschiedenen Einrichtungen ereignet haben sollen. Immer nach demselben Schema: Beim Wickeln oder während des Mittagsschlafs soll Sandra M. den Kleinkindern den Brustkorb zusammengedrückt haben, bis diese erhebliche Atemnot oder gar Atemstillstand erlitten. Hierbei habe sie den Tod der Kinder mindestens billigend in Kauf genommen, so Lingens.
Immer habe Sandra M. Kollegen nach den Misshandlungen auf den kritischen Zustand der Kinder hingewiesen und auf diese Weise eine Rettungskette in Gang gesetzt, die das Überleben der Kinder sicherte – außer im Fall der drei Jahre alten Greta.
Staatsanwalt Lingens zählt die einzelnen Tage auf, an denen Sandra M. den fast drei Jahre alten Leo im Familienzentrum in Krefeld gequält haben soll, bis er zuckte, röchelte, aus dem Mund blutete und sich sein kleiner Körper versteifte. Sandra M. absolvierte damals ihr Anerkennungsjahr in der Einrichtung. Dreimal wurde ein Notruf abgesetzt, dreimal konnte Leo gerettet werden.
Sandra M. war allein mit Greta
Viermal soll sie in einer Kindertagesstätte in Kempen den Brustkorb des zweijährigen Ahmed gedrückt haben, bis zum Atemstillstand und Leblosigkeit. Sandra M. war inzwischen Erzieherin. Der Junge erlitt Krämpfe, viermal rettete ihm ein Notarzt das Leben.
In einer Kita in Tönisvorst soll Sandra M. der drei Jahre alten Frida, die an einem angeborenen Herzfehler litt, den Brustkorb zusammengepresst haben, bis das Kind blau anlief, die Augen verdrehte und das Bewusstsein verlor. Wieder rief Sandra M. einen Kollegen, der das Mädchen reanimierte, bis ein Notarzt eintraf.
Am 21. April dieses Jahres war Sandra M. in der Kindertagesstätte »Steinkreis« in Viersen allein mit Greta. Um 13.20 Uhr hatte nach Angaben von Staatsanwalt Lingens ein Erzieher das Kind zum Mittagsschlaf hingelegt und das Haus verlassen. Wegen der Corona-Pandemie war die Einrichtung offiziell geschlossen, Sandra M. begleitete die Notbetreuung als Erzieherin. Während des Mittagsschlafs soll Sandra M. dem Mädchen wie in den vorherigen Fällen den Brustkorb bis zum Atemstillstand zusammengedrückt haben. Bei Eintreffen des Notarztes habe das Kind keine Vitalfunktionen mehr aufgewiesen, sagt Lingens. Es habe dann reanimiert werden können, sei aber trotz intensivmedizinischer Behandlung einen Tag nach seinem dritten Geburtstag an einem Hirnschaden verstorben.
»Emotions- und teilnahmslos«
Es ist still in Saal A100. Im Publikum sind einige Zuschauer tief berührt, etwa zwei Dutzend Medienvertreter begleiten den Prozessauftakt.
Gretas Mutter blickt zu Sandra M., die noch immer weint. Der 21. April war planmäßig ihr letzter Arbeitstag in der Kita in Viersen. Sandra M. hatte selbst zum 30. April gekündigt.
Der Verdacht fiel auf sie, weil das Jugendamt der Stadt ein rechtsmedizinisches Gutachten in Auftrag gab, als Greta noch am Leben war. Ärzte hatten stecknadelkopfgroße Einblutungen im Gewebe des Mädchens entdeckt und Anzeige erstattet. Schnell fanden Ermittler heraus, dass Sandra M. in fast zweieinhalb Jahren in vier verschiedenen Kitas angestellt – und aufgefallen war.
Verschiedene Vorgesetzte und Kollegen beschrieben Sandra M. den Ermittlern gegenüber als »ungeeignet« für den Beruf der Erzieherin. Sie soll sich insbesondere den Kindern gegenüber »emotions- und teilnahmslos« verhalten haben. Sie habe sich bereits einer psychiatrischen Untersuchung unterzogen, sagt ihr Verteidiger Ingo Herbort dem SPIEGEL.
Sandra M. werde im Prozess Angaben zu ihrer Person machen, kündigt Herbort an. Auch werde es von ihm und seinem Kollegen eine kurze Erklärung zur Sache geben. Wird Sandra M. die Vorwürfe einräumen? Wird sie Gretas Tod als Unfall darstellen, weil es in den Fällen davor in letzter Sekunde doch immer gut gegangen war?
»Sie lebt nicht, sie existiert nur noch«
Rechtsanwältin Marie Lingnau vertritt in der Nebenklage Gretas Mutter. Sie steht vor dem Gerichtssaal und spricht in die Mikrofone: »Meine Mandantin sagt, sie lebt nicht, sie existiert nur noch. Greta hat zwei Brüder, die ihre Mama brauchen. Sie bemüht sich, für sie da zu sein.« Greta sei ein fröhliches, lebenslustiges Kind gewesen, das gern in die Kita gegangen sei. »Ihre Mutter erhofft sich eine Erklärung, warum sie ausgerechnet an dem Ort, an dem sie so gerne war und sich geschützt fühlte, sterben musste.«
Der Nebenklagevertreter eines weiteren Elternpaares will in dem Prozess Aufklärung: Wie konnte es zu diesen »abscheulichen Verbrechen« kommen? Warum haben sich einzelne Behörden nicht untereinander abgesprochen?
Staatsanwalt Lingens erläutert, dass erst nach Gretas Tod das Verhalten der Erzieherin Sandra M. in den Fokus gerückt sei und daraufhin andere Arbeitgeber kontaktiert worden seien. Die ihr vorgeworfenen Taten seien erst im Rahmen der Ermittlungen »nach und nach« herausgekommen. Auf die Frage, ob mit weiteren Verfahren zu rechnen sei, sagt Lingens, dass bei anderen Erziehern und Jugendämtern »kein strafbares Verhalten« erkennbar sei.
Zum Motiv, das Sandra M. gehabt haben könnte, sagt Lingens: Sandra M. habe als Zeugin am Anfang der Ermittlungen behauptet, sie habe Greta in diesem Zustand vorgefunden und könne sich nicht erklären, wie es dazu gekommen sei. Seit sie im Verdacht stehe, Greta getötet zu haben, schweige sie.
Das Schwurgericht in Mönchengladbach hat bis März 19 Verhandlungstage für den Prozess eingeplant, mehr als 20 Zeugen sollen gehört werden.
*Die Namen der Kinder wurden verfremdet, sind der Redaktion aber bekannt.