Mordfall Ursula Herrmann Lebendig begraben in einer engen Kiste

Werner M. gilt als Tatverdächtiger in einem Verbrechen, das in die Kriminalgeschichte einging: Er soll 1981 die kleine Ursula Herrmann entführt und in einer Holzkiste vergraben haben. Sie erstickte. Indizien gibt es viele - wird trotzdem der Falsche vor Gericht stehen?

Zusammengekauert saß die kleine Ursula in der Holzkiste. Gerade mal 1,36 Meter war ihr Gefängnis hoch, knapp 60 Zentimeter breit. An einer Seite war ein Brett angebracht, darauf hockte das Mädchen, die Beine angewinkelt. Wenn die Zehnjährige die Hand nach vorn ausstreckte, stieß sie an die Wand gegenüber. Es war qualvoll eng, stickig. Der Peiniger des Kindes hatte die Kiste im Waldboden vergraben, 1,60 Meter tief.

Schrie das Mädchen um Hilfe, bevor es starb? Weinte es? Als die Polizei nach tagelanger Suche die Kiste fand, war Ursula längst tot. Erstickt. Die Beamten, die das hölzerne Verlies aufbrachen, sollen geweint haben.

Seit 29 Jahren ist Reinhard Nemetz, 58, heute Oberstaatsanwalt am Landgericht in Augsburg, mit dem Fall Ursula Herrmann befasst. Fast drei Jahrzehnte, nachdem die Zehnjährige entführt und von einem Unbekannten in eine im Wald vergrabene Kiste gesperrt wurde, soll nun vor der 8. Strafkammer der Prozess gegen den mutmaßlichen Täter beginnen. Gegen Werner M.

Beweise? Die gibt es nicht. Auch kein Geständnis oder eine nachträglich auszuwertende DNA-Spur. Was es reichlich gibt, sind Indizien. Oder, wie es ein Oberstaatsanwalt wie Nemetz ausdrückt, eine "komplexe Beweislage durch zahlreiche Indizien".

Die Staatsanwaltschaft ist davon überzeugt, dass Werner M. am 15. September 1981, dem ersten Schultag nach den Sommerferien, Ursula auflauerte, als sie in der bayerisch-idyllischen Provinz von Schondorf nach Eching radelte. Das Mädchen hatte - nach ihrem ersten Tag im Gymnasium - noch seine Tante besucht und war auf dem Heimweg. Laut Anklage zerrte Werner M. das Kind vom Rad und verschleppte es ins Waldstück Weingarten.

Dann sperrte er es in die Kiste.

Drei Tage später, am 18. September, liegt das erste Erpresserschreiben im Briefkasten der Familie Herrmann, am 21. September folgt das zweite: Die Buchstaben sind wie im Kriminalfilm aus Zeitungsschlagzeilen zusammengestückelt. Ursulas Kidnapper fordert zwei Millionen Mark Lösegeld, detaillierte Übergabemodalitäten hat er aufgeführt.

"Raffinierter Plan ermöglicht ihr durchzuhalten"

Zusätzlich meldet er sich neunmal per Telefon. Er selbst spricht dabei nicht. Die Eltern Herrmann hören immer nur die Verkehrsfunkmelodie von Radio Bayern 3.

Die Anrufe sollen Ursulas Eltern die Möglichkeit geben, sich zu den Forderungen des Erpressers zu äußern. Verzweifelt beteuern sie, das Geld - eine Summe, über die sie nicht im Ansatz verfügen - irgendwie aufzutreiben.

Am 23. September, acht Tage nach Ursulas Verschwinden, folgt ein Telegramm, das in Landshut aufgegeben wurde: "Weitersuchen! Raffinierter Plan ermöglicht ihr durchzuhalten."

Ursula ist zu diesem Zeitpunkt längst tot: Aus der Holzkiste führten Plastikrohre an die Erdoberfläche, um dem gefangenen Kind Sauerstoff zuzuführen - doch der notwendige Ventilator für die Belüftung fehlte. Laut Obduktionsbericht ist Ursula Herrmann innerhalb der ersten sechs Stunden in der hermetisch abgeschlossenen Kiste elendig erstickt. "Sie ist buchstäblich lebendig begraben worden, ein in der Kriminalhistorie ganz ungewöhnliches Geschehen", sagt Strafverfolger Nemetz.

Als die Eltern einen Nachweis über die Unversehrtheit ihres Kindes fordern, bricht der Entführer den Kontakt ab. Ermittler vermuten, dass er die Eltern erpresste, obwohl er längst wusste, dass Ursula tot war.

19 Tage nach der Entführung, am 4. Oktober 1981, findet ein Suchtrupp der Sonderkommission "Herrmann" die Erdgrube und die Kinderleiche. Als einer der ersten ist Rechtsmediziner Wolfgang Eisenmenger am Tatort. "Ein Kind in einer Kiste, versenkt im Boden - ich habe so etwas nie wieder erlebt", erinnert sich Eisenmenger.

Der Fall Ursula Herrmann

Der Verdächtige hat enorme Schulden

Weil der Entführer auch eine Autobatterie an die Kiste angeschlossen hatte, die eine Lampe mit Strom versorgte und sich in der Kiste zudem ein Transistorradio mit spezieller Drahtantenne befand, fällt der Verdacht schnell auf Werner M.

Der damals 30-Jährige lebt in Eching, ist gelernter Fernsehmechaniker und hat enorme Schulden. Auf Musikkassetten hat er die Bayern-3-Melodie aufgezeichnet, ein Zeuge behauptet zudem, er habe im Auftrag M.s eine Grube im Wald schaufeln müssen.

Doch die Aussagen jenes Zeuge erweisen sich schon bald als wertlos, er halluziniert in Vernehmungen, seine Angaben können nicht verwertet werden. Außerdem hat Werner M. ein wasserdichtes Alibi, das von zwei Zeugen bestätigt wird. Spur Nr. 237, unter der M. in den Akten der Polizei geführt wird, führt ins Leere.

Bis zum Herbst 2007: Da wird Werner M. von den Ermittlern an seinem neuen Wohnort in Schleswig-Holstein überrascht. Die Beamten durchsuchen sein Haus und finden - anders als damals - ein Tonbandgerät der Marke Grundig TK 248. Technische Gutachter des bayerischen Landeskriminalamtes sind sich anhand von individuellen Knackgeräuschen sicher: Genau dieses Gerät wurde bei den Erpresseranrufen im Fall Herrmann verwendet.

Diese Knackgeräusche sind laut Anklage nur "eines von vielen Mosaiksteinchen, die in ihrer Fülle ein stimmiges Gesamtbild ergeben", sagt Oberstaatsanwalt Nemetz.

Aufgezeichnete Gespräche des Paares M., dessen Wohnung und Auto zeitweilig verwanzt wurden, werden im Prozess ebenfalls eine große Rolle spielen. Demnach soll Werner M. den Tod Ursula Herrmanns als "Betriebsunfall" bezeichnet haben.

Am 28. Mai 2008 kommt Werner M. in Untersuchungshaft.

Werner M. - "Speziell", zynisch, brutal

Werner M. ist ein großer, kräftiger Mann mit Vollbart, er lebte zum Zeitpunkt der Entführung keine 300 Meter von der Familie Herrmann entfernt. Eine Geschichte aus dem Jahr 1975, die man sich über ihn erzählt und die auch sein Anwalt nicht dementiert, spricht von seiner Brutalität. Damals soll M. seinen Hund in die Tiefkühltruhe gesteckt haben - aus Wut darüber, dass der den Inhalt des Küchenmülleimers auf dem Fußboden zerstreut hatte. M. holte das Tier erst wieder aus dem Eisfach, als es tot war.

"Eine üble Geschichte, keine Frage", sagt M.s Verteidiger, Rechtsanwalt Walter Rubach aus Augsburg. "Aber allein daraus zu schließen, er habe Ursula Herrmann vergraben, halte ich für verwegen." Werner M. sei eben ein "spezieller Typ", diesem Umstand sei auch seine Ausdrucksweise geschuldet, als er den Ausdruck "Betriebsunfall" benutzte. "Er ist eben ein Mensch, der bisweilen eine grobe, zynische Sprache benutzt", sagt Rubach.

Auch dass sein Mandant damals Schulden hatte, hält Rubach als mögliches Motiv für wenig überzeugend. Seiner Meinung nach ging es im Entführungsfall Herrmann nicht unbedingt um Geld. Ein weiterer Tatverdächtiger, der mittlerweile gestorbene Münchner Polizist Harald W., habe ebenso Gründe gehabt für die Tat; und zudem einen Kollegen, der sie ihm zutraute - "nicht des Geldes wegen, sondern weil er es seiner ehemaligen Behörde mal zeigen wollte", sagt Rubach. "Harald W. wird sogar von einem Zeugen als Charakterschwein beschrieben: Er habe nachts Jagd auf Obdachlose gemacht, sie von den Parkbänken geprügelt. Einen soll er sogar so lange unter Wasser gedrückt haben, bis der zu ertrinken drohte."

So lässt sich aus der Sicht des erfahrenen Strafverteidigers nahezu jedes Indiz gegen, aber auch zugunsten Werner M.s auslegen.

Der Tatverdächtige und seine Ehefrau sind bereits vorbestraft

Was ist sonst von Werner M. bekannt? Er ist zum zweiten Mal verheiratet und Vater zweier Kinder. Seine Tochter hat Ursula gekannt und auch mal mit ihr gespielt. Mit seinem Werkstattladen für Rundfunk- und Fernsehtechnik in Eching ging er pleite, Gläubiger und Banken wollten damals mehr als 150.000 Mark.

Ein Jahr nach Ursulas Tod zog das Ehepaar M. weg vom Ammersee. Es heißt, die knapp 1600 Einwohner Echings hätten Werner M., Mitglied im ortsansässigen Schützenverein, trotz seines Alibis der Tat beschuldigt und ausgegrenzt.

Der gebürtige Oberhausener und Sohn eines Polizisten lebte anschließend mit seiner Frau zuerst in einem Dorf im Bayerischen Wald, danach zogen sie an die Ostsee, nach Kappeln an der dänischen Grenze, wo Werner M. ein Geschäft für Bootszubehör eröffnete. Die Ermittler behielten ihn fortwährend im Auge.

Beide, Werner und Gabriele M., sind vorbestraft und zu Bewährungsstrafen verurteilt: Er wegen Urkundenfälschung und Betrugs, sie wegen falscher uneidlicher Aussage. Die Staatsanwaltschaft wirft Gabriele M. vor, die Erpresserschreiben verfasst zu haben. "Ein prozesstaktischer Schachzug", sagt Verteidiger Rubach: Somit könne Frau M. nicht von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen, ihre bisherigen Aussagen seien dennoch verwertbar.

Ungewöhnlich für einen reinen Indizienprozess: Werner M. werde zum Auftakt am Donnerstag nicht schweigen, sondern sich umfassend zum Tatvorwurf äußern, kündigte sein Rechtsanwalt an. Gegen das Ehepaar aus Rheinland-Pfalz, das den M.s zum Zeitpunkt der Entführung ein Alibi gegeben hat, wird in einem getrennten Verfahren ermittelt.

"Völlig neutral und fair ins Verfahren"

Ursulas Eltern werden nicht am Prozess teilnehmen. Ihre Anwältin Marion Zech wird versuchen, auch bei ihrer Zeugenbefragung die Öffentlichkeit auszuschließen. Ursulas Bruder, heute 45 Jahre alt, wird im Namen der Familie als Nebenkläger an bestimmten Verhandlungstagen im Gerichtssaal sitzen.

Für die Angehörigen sei es wichtig, dass sie am Ende des Prozesses restlos von der Schuld des Angeklagten überzeugt seien, sagt Anwältin Zech. "Meine Mandanten haben sich noch keine Meinung gebildet, sie gehen völlig neutral und fair ins Verfahren. Sie wollen sich erst am Ende der Beweisaufnahme ein Urteil bilden."

Mit Hilfe eines "engmaschigen Informationssystems" werden Ursulas Eltern "ohne Wertung" von allen Details aus dem Verfahren unterrichtet, so Zech. "Natürlich liegt ganz klar ein Tatverdacht gegen Herrn M. vor, aber ob er sich tatsächlich verdichten lässt, wird erst die Hauptverhandlung zeigen."

Für die Nebenklage-Vertreterin steht fest: "Wenn meine Mandanten nicht von der Täterschaft des Herrn M. überzeugt sind, werde ich nicht gegen ihre Überzeugung plädieren."

Die Familie gilt als tief gläubig. Während einer der Erpressertelefonate sollen Ursulas Eltern ihrem stummen Anrufer gesagt haben: "Wir verzeihen Ihnen." Allerdings klammerten sie sich da noch an die Hoffnung, ihr Kind sei am Leben.

Der Fall Ursula Herrmann

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