Plädoyers der Nebenkläger
Der letzte Versuch der Familie Lübcke
Wie sind der mutmaßliche Mörder Walter Lübckes und sein ehemaliger Kumpel zu bestrafen? Der Anwalt der Familie bemüht sich erneut, die Richter von der Zwei-Täter-Theorie zu überzeugen.
Die Familie des ermordeten Walter Lübcke mit Anwalt Holger Matt im Oberlandesgericht Frankfurt am Main: Sie sind davon überzeugt, dass Stephan Ernst nicht allein am Tatort war
Foto: Thomas Lohnes / AFP / dpa
Es schneit an diesem Morgen in Frankfurt am Main, an dem die Familie des ermordeten Walter Lübcke ein letztes Mal vor Gericht das Wort an den mutmaßlichen Mörder und dessen mutmaßlichen Helfer richten darf. Wie auch der Geflüchtete Ahmed I. Und sei es nur durch die Stimme ihrer Anwälte.
In Saal 165 des Oberlandesgerichts sitzen sie auf derselben Seite wie die Vertreter der Bundesanwaltschaft. Vereint in ihrer Überzeugung, dass Stephan Ernst den Kasseler Regierungspräsidenten am Abend des 1. Juni 2019 auf dessen Terrasse in Wolfhagen-Istha erschossen und Ahmed I. am 6. Januar 2016 mit einem Messer hinterrücks angegriffen hat.
Sie sind sich einig, dass sich der Neonazi bei beiden Taten leiten ließ von seiner »tief eingeschliffenen Ausländerfeindlichkeit«. So hat es Oberstaatsanwalt Dieter Killmer formuliert. Ernst sitzt ihnen allen gegenüber, wie immer im schwarzen Anzug, das Gesicht seltsam versteinert, der Blick geradeaus. Er hat den Mord gestanden, den Angriff streitet er ab. Er weiß, eine Verurteilung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe, eine Entlassung vor dem offiziellen Ruhestand – das wäre sein Glücksfall.
War Markus H. zur Tatzeit am Tatort?
Vor Ernst sitzt der mit ihm angeklagte Markus H., breitbeinig, die Arme verschränkt, fast vergnügt. Er hat sich im Laufe des Prozesses für ein weißes Hemd samt schwarzer Krawatte entschieden und rechnet mit einem Freispruch. Was seine Rolle bei der Ermordung Walter Lübckes angeht, sind sich die Vertreter der Bundesanwaltschaft und die Angehörigen des Politikers uneins.
Aus Sicht der Ankläger hat Markus H. Ernst in seiner Mordabsicht bestärkt, seinen Hass mit ihm geteilt, ihn radikalisiert, ihm das Schießen beigebracht – auch auf eine Zielscheibe mit einem Konterfei Angela Merkels. Er habe sich der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht und gegen das Waffenrecht verstoßen. Neun Jahre und acht Monate soll der bekennende Neonazi dafür büßen. Eine Strafe als »Zeichen der Wehrhaftigkeit« nach der Erschießung eines »Vertreters dieses Staates«, wie Killmer in seinem fast sechs Stunden dauernden Plädoyer Ende Dezember betonte. Die Tat sei eine »Mahnung gegen Hass statt Respekt, gegen Geschrei statt Diskurs«. Dass H. beim Mord an Walter Lübcke mit am Tatort war, sehen die Vertreter der Bundesanwaltschaft nicht.
Die Familie Lübcke hingegen sieht H. als Mittäter, als den zweiten Mann an jenem 1. Juni 2019 auf der Terrasse ihres Zuhauses. Das Plädoyer ihres Anwalts Holger Matt ist ein letzter Versuch, den 5. Strafsenat davon zu überzeugen, dass H. auch deshalb zu verurteilen ist.
Vier Stunden lang steht Matt am Rednerpult, neben ihm sitzen die Frau und die beiden Söhne Walter Lübckes. Für sie habe in diesem Verfahren neben der Aufklärung des Verbrechens vor allem im Vordergrund gestanden, wie die letzten Sekunden in Walter Lübckes Leben aussahen, was vor dem tödlichen Schuss passierte.
Immer wieder hebt Matt hervor, wie sehr die Familie dem Angeklagten Ernst und seinem vierten, seinem letzten, im Prozess abgelegten Geständnis glaubt. Darin hatte dieser eingeräumt, den Mord an Walter Lübcke gemeinsam mit H. geplant und ausgeführt zu haben. Ernst sei der »einzig aussagebereite Tatzeuge«, seine Angaben seien auf »Offenheit und Wahrheit« gebaut, sagt Matt. So, wie Ernst die letzten Sekunden im Leben Walter Lübckes schildert, so hätten sie sich zugetragen.
Die Theorie eines alleinigen Täters, an der die Anklage festhält, impliziere, dass der Schütze nach dem Schuss auf Walter Lübcke noch einmal um den Gartenstuhl, auf dem der Politiker saß, herumgegangen sei. Das sei »völlig unerklärlich«, ruft Matt empört. Die Argumentation, man könne H. keine Tatbeteiligung nachweisen, macht Matt fast wütend. Natürlich gebe es Beweise! »Es gibt die Angaben von Ernst, er war dabei!«
Ernst versuchte, H. aus der Sache rauszuhalten
Für die Familie gebe es »keine Restzweifel«, sagt Matt. »Ohne H. hätte es den Mord an Walter Lübcke nicht gegeben.« Er zählt Indizien auf wie das identische Verhalten der beiden Angeklagten nach dem Mord, als sie ihre konspirative Kommunikation auf einem verschlüsselten Nachrichtendienst löschten; wie Ernst in seinem ersten Geständnis »verkrampft« versucht habe, H. aus der Sache herauszuhalten. Er führt weitere Indizien auf, die es seiner Meinung nach in ihrer Gesamtheit »rechtlich unmöglich« machten, H. vom Vorwurf der Beihilfe des Mordes freizusprechen.
Doch danach sieht es aus. Der Senat hob im Oktober den Haftbefehl gegen H., einen rechtsextremen Waffennarren, auf, weil die Richter keinen dringenden Tatverdacht mehr sahen. Erst recht erging im Verfahren kein rechtlicher Hinweis, dass gar eine Verurteilung wegen Mittäterschaft in Betracht komme.
Das Grinsen des Markus H.
H. quittiert das Plädoyer der Familie vielleicht auch deshalb mit seiner ihm typischen Art: Er verzieht spöttisch den Mund. Matt spricht es direkt an: »Wir sitzen den beiden Angeklagten seit Beginn des Prozesses gegenüber und sehen das Verhalten des Angeklagten H. in jeder Minute grinsend.«
Am Ende seines Vortrages beantragt Matt, Ernst und H. wegen mittäterschaftlichen Mordes an Walter Lübcke zu verurteilen. Er schließt sich der Bundesanwaltschaft an, die beantragte, Ernst wegen Mordes und Mordversuchs zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe zu verurteilen, die besondere Schwere der Schuld festzustellen sowie die Sicherungsverwahrung anzuordnen. Es ist die härteste Strafe, die im deutschen Strafrecht möglich ist. Ernst könnte dann weder nach 15 Jahren auf Bewährung noch nach Verbüßung seiner Strafe entlassen werden.
Sollte der Senat H. weiterhin nicht als Mittäter überführt sehen und ihn wegen Beihilfe zum Mord verurteilen, hält Matt die Forderung der Ankläger von neun Jahren und acht Monaten Freiheitsstrafe für angemessen.
Reue und Heuchelei
Erst kurz vor vier Uhr erhebt sich Alexander Hoffmann, Rechtsanwalt von Ahmed I., zum Schlussvortrag. Für ihn steht nach der Beweisaufnahme fest, dass es Stephan Ernst war, der seinen aus dem Irak stammenden Mandanten am 6. Januar 2016 mit einem Messer schwer verletzte.
Hoffmann erwähnt, wie Ahmed I., der in Deutschland auf Schutz und einen Neuanfang hoffte, zum Geflüchteten wurde, »der Ärger machte«. Die Ermittlungsbehörden hatten seine Hinweise auf einen rechtsextremen Hintergrund des Angriffs nicht ernst genommen.
Anders als die Familie Lübcke glaubt Hoffmann Ernst nicht. Vielmehr unterstellt er ihm eine Art Strategie: rechtsextreme Straftaten begehen und im Gerichtsverfahren dann Reue heucheln und behaupten, sich von der neonazistischen Ideologie abgewandt zu haben.
Doch was Alexander Hoffmann und die Bundesanwaltschaft als Mordversuch an Ahmed I. einstufen, sieht der Senat wohl nicht als erwiesen an. In mehreren Beschlüssen ließen die Richter erkennen, dass sie die DNA-Spur an dem Messer, der möglichen Tatwaffe, die in Ernsts Keller gefunden wurde, nicht für ausreichend beweiskräftig halten.
Sollte das Gericht Stephan Ernst vom Vorwurf des Mordversuchs an Ahmed I. freisprechen, würde man seinen Mandanten im Stich lassen, so Hoffmann. Ahmed I. selbst bedankt sich mithilfe eines Dolmetschers beim Senat und der Bundesanwaltschaft für deren empathisches Entgegenkommen. »Und dafür, dass Sie Gerechtigkeit gewähren lassen.«
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Die Familie des ermordeten Walter Lübcke mit Anwalt Holger Matt im Oberlandesgericht Frankfurt am Main: Sie sind davon überzeugt, dass Stephan Ernst nicht allein am Tatort war