Mordprozess Pistorius' Anwalt überrascht mit Schreitheorie

Der Verteidiger von Oscar Pistorius wählt eine ungewöhnliche Verteidigungsstrategie: Die Zeugin, die von Schreien des Opfers Reeva Steenkamp in der Todesnacht berichtete, müsse sich verhört haben. Vielmehr klinge sein Mandant wie eine Frau, "wenn er sehr große Angst hat".
Mordprozess: Pistorius' Anwalt überrascht mit Schreitheorie

Mordprozess: Pistorius' Anwalt überrascht mit Schreitheorie

Foto: POOL/ REUTERS

Pretoria - Im Mordprozess gegen den südafrikanischen Sprinter Oscar Pistorius hat die Richterin am zweiten Verhandlungstag eine scharfe Warnung gegen die Medien ausgesprochen. Grund ist ein Zwischenfall, der sich etwa eine halbe Stunde nach dem Beginn der Verhandlung ereignete.

Richterin Thokozile Masipa unterbrach die Sitzung. Sie ordnete eine Untersuchung an, weil ein südafrikanischer TV-Sender ein Standbild der Zeugin Michelle Burger gezeigt hatte - gegen die Vorgabe des Gerichts, keine Bilder von Zeugen zu zeigen, wenn diese es ablehnen.

Der Sender eNCA habe den Ton von Burgers Aussagen übertragen und dazu ein Foto der Frau gezeigt, sagte Staatsanwalt Gerrie Nel. Die Einblendung dazu haben gelautet: "Im Zeugenstand: Michelle Burger, Pistorius' Nachbarin". Patrick Conroy, Nachrichtenchef von eNCA, twitterte, das Foto stamme von der Website der Uni, an der Burger arbeite. Auch Zeitungen hätten das Bild benutzt.

Die Richterin sagte, es sei "sehr verstörend", dass der TV-Sender die gerichtliche Anordnung offenbar missachtet habe. Die Untersuchung solle Klarheit bringen. "Das ist vielleicht nur die Spitze des Eisbergs." Masipa sagte: "Ich warne die Medien. Wenn ihr euch nicht betragt, wird euch dieses Gericht nicht mit Samthandschuhen anfassen." Der Wunsch von Zeugen, nicht im Bild zu erscheinen, sei unbedingt zu respektieren - ganz gleich, woher die Fotos stammten.

"Die Angst in der Stimme dieser Frau ist schwierig zu beschreiben"

Der Zwischenfall unterbrach Burgers Befragung durch Pistorius' Anwälte. Die Nachbarin lebt etwa 180 Meter von Pistorius' Haus entfernt. Sie ist die erste Zeugin, die in dem Verfahren befragt wird. Auch ihr Ehemann und eine weitere Nachbarin sollen aussagen.

Burger bekräftigte ihre Aussage vom Prozessauftakt, wonach sie in der Todesnacht von Pistorius' Freundin Reeva Steenkamp eine Frau um Hilfe schreien gehört habe. "Die Ereignisse dieses Abends sind extrem traumatisierend für mich. Die Angst in der Stimme dieser Frau ist schwierig vor Gericht zu beschreiben. Ich habe die Panik in der Stimme dieser Frau gehört", sagte Burger. "Ich habe nur meine Version anzubieten", fügte sie hinzu.

Die Universitätsdozentin hatte am Montag berichtet, sie habe gegen drei Uhr nachts vier Schüsse gehört - dies entspricht der Zahl der Schüsse, die Pistorius in der Nacht zum Valentinstag vergangenen Jahres auf seine Freundin abgab. Pistorius sagt, er habe seine Freundin versehentlich erschossen. Nach seiner Darstellung gab es vorher keinen Streit, sondern er hielt sie für einen Einbrecher.

Verteidiger zieht Aussagen von Zeugin in Zweifel

Pistorius' Verteidiger Barry Roux versuchte am Dienstag erneut, Burgers Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen. Während sie vier Schüsse gehört haben wolle, habe ihr Mann von fünf oder sechs berichtet. Die angeblichen Schüsse seien möglicherweise der Lärm gewesen, als Pistorius mit einem Cricketschläger seine Badezimmertür zertrümmert habe, nachdem ihm klar geworden sei, dass Steenkamp dahinter war. Zudem bezweifelte Roux, dass Burger die Schreie einer Frau gehört habe. "Wenn Herr Pistorius sehr große Angst hat, klingen seine Schreie wie die einer Frau", sagte der Anwalt.

Am Ende des insgesamt mehr als vier Stunden langen Kreuzverhörs brach Burger in Tränen aus. Roux musste sich entschuldigen, als er Burger unterstellte, sie sei nicht ehrlich.

Estelle van der Merwe, eine weitere Nachbarin, schilderte, sie habe in der Tatnacht zunächst einen Streit und später Schüsse gehört. Sie ist damit die zweite Zeugin, die die Darstellung des 27-Jährigen grundsätzlich infrage stellt.

Der an beiden Unterschenkeln amputierte Pistorius wirkte müde. Nachdem er im Gerichtssaal Platz genommen hatte, begann er zu beten. Der 27-Jährige, dem neben der "vorsätzlichen Tötung" seiner Freundin das Tragen und der Einsatz verbotener Waffen vorgeworfen werden, hatte am Montag auf nicht schuldig plädiert und erneut von einem "tragischen Unfall" gesprochen.

Der Prozess soll drei Wochen dauern. Wegen des riesigen öffentlichen Interesses wird er zeitweise live im Fernsehen und Radio übertragen. In Pretoria sind Hunderte in- und ausländische Journalisten, um über den spektakulären Fall zu berichten. Pistorius droht im Fall eines Schuldspruchs eine lebenslange Haftstrafe.

Für den Prozess sind knapp drei Wochen vorgesehen. Das Urteil ist für den 20. März angesetzt. Am Mittwoch wird der Prozess mit der Befragung von Burgers Ehemann fortgesetzt.

ulz/AFP/AP/Reuters
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