Mordprozess im Fall Michelle Geschändet, getötet, entwürdigt
Die Öffentlichkeit wurde ausgeschlossen, weil der Angeklagte erst 19 Jahre alt ist und eine Jugendstrafkammer über ihn zu Gericht sitzt. Es könnten Dinge aus seinem Intimbereich zur Sprache kommen, die nicht öffentlich diskutiert werden müssen, erklärte das Gericht. So weit, so gut.
Eine halbe Stunde später wurden Publikum und Presse wieder in den Saal gelassen. Es war offensichtlich rasch gegangen mit dem Geständnis des Daniel V., der angeklagt ist, am 18. August 2008 die achtjährige Michelle aus Leipzig missbraucht und dann getötet zu haben. Die Leiche des Kindes wurde drei Tage später am Ufer eines Teichs im Naturschutzgebiet Stötteritzer Wäldchen im Südosten der Stadt gefunden.

Daniel V.: Wie ein kleines Kind, das sich fürchtet
Foto: Peter Endig / dpaNun packt ein 35 Jahre alter Arzt für Rechtsmedizin von der Universität Leipzig seine Utensilien aus, Laptop, Kabel, Filmkamera. Eine Leinwand wird entrollt. Und dann geht es los: ein Foto vom Auffinden der Kinderleiche. Ein Raunen geht durch den Saal.
Die nächsten zwei Bilder zeigen das tote Kind nackt, von vorn. Von hinten. Der Rechtsmediziner erklärt, was jeder sieht: die Blaufärbung, die Totenflecken, die Würgemale. Viele Zuschauer wenden sich entsetzt ab.
Dann das Gesichtchen in Großaufnahme. Der Hinterkopf des Kindes fast kahl, nur noch an manchen Stellen behaart, weil V. das Mädchen über den Erdboden gezogen hatte, als er es zum Versteck am Teich schaffte.
Und zum krönenden Abschluss die gespreizten Beine des Mädchens, sein kindliches Genital in voller Größe. Das Bild bleibt auf der Leinwand stehen. Ungerührt erläutert der Rechtsmediziner diesen Flecken und jene Abschürfung. Bis der Vorsitzende, immerhin Vorsitzender einer Jugendstrafkammer, endlich sagt: "Brauchen wir dieses Bild eigentlich noch länger?"
Es sind Sitten eingerissen bei manchen Rechtsmedizinern, die der Würde des Opfers und dem Respekt vor den Hinterbliebenen - und auch den Gefühlen der Öffentlichkeit - Hohn sprechen. Und den Gerichten scheint jedes Empfinden für diese Instinktlosigkeiten abhandengekommen zu sein. Das war schon so im Fall Jessica, des verhungerten Kindes, der vor dem Hamburger Landgericht verhandelt wurde. Da zeigte der rechtsmedizinische Gutachter (nur) der Presse auf Großleinwand die nackte, aufgeblähte, noch nicht obduzierte Leiche des Mädchens.
Michelles Eltern blieb der unerträgliche Auftritt erspart
Der Angeklagte wird von Rechts wegen geschützt, das steht im Gesetz und wird also auch befolgt. Das Opfer aber darf anscheinend als Objekt erniedrigt und präsentiert werden wie ein Stück Fleisch. Weil sich in der Strafprozessordnung keine Vorschrift gegen die Verunglimpfung eines Opfers durch einen Sachverständigen findet? Weil es für manchen Sachverständigen kein Halten mehr gibt, wenn es um den großen Auftritt vor Gericht geht?
Offensichtlich mangelt es gerade manchen Rechtsmedizinern, die üblicherweise nur mit Toten zu tun haben, an Takt. Und die Gerichte schreiten nicht ein. Denn welchen Erkenntnisgewinn soll das öffentliche Zur-Schau-Stellen eines getöteten Kindes bringen? Allenfalls kochen Emotionen hoch. Ein Glück, dass die Eltern Michelles diesen unerträglichen Auftritt nicht miterleben mussten; sie waren am Montag nicht im Gerichtssaal erschienen.
So begann am Montagmorgen vor der 3. Strafkammer des Landgerichts Leipzig mit dem Vorsitzenden Norbert Göbel der Prozess gegen Daniel V. In Handschellen wurde er in den Saal geführt von einem bewaffneten Justizbeamten, wie ein kleines Kind, das sich fürchtet. Unter dem Blitzlichtgewitter der Film- und Fotoreporter setzte er sich unbeholfen.
Er trägt ein blaugrau gestreiftes Hemd mit offenem Kragen. Minutenlang sitzt er bewegungslos da und starrt vor sich hin. Er ist blass, wirkt weichlich, und als er später Namen und Alter nennt, klingt die Stimme hell, fast mädchenhaft. Die Worte setzt er langsam und bedächtig.
Der angeklagte Daniel V., "ein zurückgebliebener Teenager"
Daniel V. wurde mit Trisomie 8 geboren. Seine Ohren sind auffallend klein, der Hinterkopf ist flach. Geistig aber ist er nicht behindert, er hat die Schule mit dem Realschulabschluss abgeschlossen und eine Ausbildung zum staatlich geprüften Sozialassistenten begonnen. Eine gewisse motorische Langsamkeit aber ist unübersehbar.
Dass er als Kind von seinen Altersgenossen gehänselt worden sei, dass gegen ihn gestichelt wurde und dass niemand sein Freund habe sein wollen, wie sein Verteidiger Malte Heise ihn sagen lässt, passt zum Eindruck, den der Angeklagte erweckt. "Ich bezeichne ihn als zurückgebliebenen Teenager", sagt Heise vor Gericht.
V. wohnte damals in unmittelbarer Nähe von Michelles Wohnung in der Leipziger Lipsiusstraße bei seiner Mutter. Das Kind war kein Zufallsopfer. Er kannte das Mädchen, hatte er doch in dessen Schule schon einmal ein Praktikum absolviert. So ist es zu erklären, dass Michelle am Nachmittag jenes Augustnachmittags gegen 15.20 Uhr arglos V.s Wohnung betrat. Er hatte ihr aufgelauert und erklärt, er wolle ihr etwas für ihre Mutter mitgeben. Er hatte die Tat also genau geplant.
Wie sich Daniel V. bei den Eltern entschuldigte
Verteidiger Heise hat schon den Mörder von Mitja, Uwe K., vor dem Leipziger Gericht vertreten. Er ist ein erfahrener Strafverteidiger und weiß, wie und was vor Gericht erörtert werden soll. Es geht ihm vor allem darum, dass V. nach Jugendstrafrecht verurteilt wird, das als Höchststrafe für Mord zehn Jahre Freiheitsentzug vorsieht. Er erklärt anstelle des Angeklagten, dass V. den Eltern seines Opfers im Juni einen Brief geschrieben habe, der aber ungeöffnet zurückkam. V.s Worte hätten sicher nur "kleine Kraft", aber es sei wichtig gewesen für den Angeklagten, sie zu formulieren, sagt der Verteidiger.
"Bevor Sie Daniel V. kennenlernen", fährt der Verteidiger in Richtung der Kammer fort, "er hat Veränderungspotential. Wenn einer sich noch ändern kann, dann er! Ich trete dafür ein, dass er Hilfe bekommt und nicht verdammt wird."
Dann lässt er seinen Mandanten einige Worte sagen. "Als Erstes möchte ich mich entschuldigen bei der Familie, über die ich so viel Leid gebracht habe", sagt V. mit zittriger Stimme. "Ich möchte mich entschuldigen dafür, dass ich nicht früher die Kraft gefunden habe, mich zu stellen. Und ich möchte mich bei der Öffentlichkeit entschuldigen, die ich in Angst und Schrecken versetzt habe."
"Ich war ein ungewolltes Kind", sagt V. leise
Er sei von einer alleinerziehenden Mutter und der Großmutter aufgezogen worden; der Vater habe ihn nicht haben wollen. "Ich war ein ungewolltes Kind", sagt V. Sein Hobby sei Hockeyspielen gewesen. Auch Schwimmen und Volkstanz habe ihn interessiert. Doch dazu habe die Zeit gefehlt.
Die Tat hatte der Polizei zunächst Rätsel aufgegeben. Denn die Ermittler kamen bald zu der Überzeugung, der Fundort sei wohl nicht der Tatort. Doch niemand hatte bemerkt, dass und von wem das tote Mädchen dort abgelegt worden war.
V. wird von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, das Kind bei sich zu Hause missbraucht, dann aber, als es schrie und sich wehrte, brutal geschlagen und schließlich erwürgt zu haben. Die Anklage bewertet dies als Mord, begangen aus niedrigen Beweggründen und zur Verdeckung des sexuellen Übergriffs. V. hat an Michelle zwar nicht den Geschlechtsverkehr vollzogen, ist aber mit seinen Fingern in sie eingedrungen. Er hat sie massiv geschlagen, ihr mit einem Trichter Alkohol eingeflößt, hat sich auf sie gesetzt und immer wieder gewürgt.
Die Leiche soll er dann zwei Nächte lang in einer Abstellkammer im Zwischengeschoss des Treppenhauses verborgen haben, ehe er sie zum Fundort brachte. Dies war ihm trotz des großen Polizeiaufgebots gelungen, das zu dieser Zeit die Gegend durchkämmte.
Daniel V. ging zur Polizei und verstrickte sich in Widersprüche
Fast sieben Monate lang tappten die Ermittler im Dunkeln. Sie arbeiteten sich durch 1700 Hinweise aus der Bevölkerung, sie überprüften an die 250 einschlägig vorbestraften Sexualtäter in Leipzig und Umgebung. Erst als dies alles kein Ergebnis brachte, wurde das unmittelbare Umfeld Michelles noch einmal genauer unter die Lupe genommen. Die Polizei bat zum Speicheltest - und wer nicht kam, sollte zu Hause aufgesucht werden. So auch Daniel V.
Am 8. März, einige Stunden vor dem Besuch der Polizei und 202 Tage nach der Tat, erschien er mit seiner Mutter bei einer Polizeidienststelle und gab an, mit dem Verbrechen zu tun zu haben: Ein Unbekannter habe ihm einen Plastiksack überlassen und gebeten, diesen zu entsorgen. Er habe den Sack geöffnet und darin das tote Mädchen entdeckt. Stunden später, und nachdem er sich in Widersprüche verwickelt hatte, gestand V. die Tat.
Als vaterlos aufgewachsenem Kind habe V. das männliche Element in der Erziehung völlig gefehlt, sagt Verteidiger Heise über seinen Mandanten. Über Sexualität sei in dem Frauenhaushalt nie gesprochen worden. Warum er aber eine solche Tat begangen habe, könne sich V. bis heute selbst nicht erklären.
Nach der Festnahme V.s herrschte in Leipzig Erleichterung; endlich, so die Hoffnung, sei die Bedrohung durch einen frei umherlaufenden Sextäter vorbei. Diese Hoffnung trog. Im Juli verschwand die neunjährige Corinna aus Eilenburg, einer 17.000 Einwohner zählenden Stadt nordöstlich von Leipzig. Auch sie wurde an einem Gewässer gefunden, am Mühlgraben, einem Nebenarm der Mulde, in einen Sack verpackt - vergewaltigt und umgebracht. Als Tatverdächtigen nahm die Polizei vier Tage später einen 39 Jahre alten geschiedenen Mann fest. Der Prozess gegen ihn wird voraussichtlich Ende dieses Jahres stattfinden.
Ob der Rechtsmediziner dann wieder Fotos eines vergewaltigten Kindes auf Großleinwand vorführen darf?