Mordprozess gegen Mutter des vierjährigen Jan H. »Vielleicht hatte er Angst vor ihr?«

Angeklagte Claudia H. im Gericht (verdeckt): »Vielleicht habe ich zu viel erwartet.«
Foto: Arne Dedert / picture alliance / dpaDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Claudia H. scheint sich fehl am Platze zu fühlen. Aufrecht, angespannt, den Oberkörper zur Richterbank gewandt sitzt sie zwischen ihren Verteidigern in Saal 215 im Landgericht Hanau.
Ihr Sohn Jan starb am Nachmittag des 17. August 1988 im Haus eines befreundeten Pastors, erstickt an erbrochenem Haferschleim, so lautete damals die offizielle Todesursache. Er war vier Jahre alt. Mehr als 25 Jahre lang wurde ein Fremdverschulden ausgeschlossen, bis die Hanauer Schwurgerichtskammer im September 2020 die Ehefrau des Pastors wegen Mordes an dem Jungen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilte .
Der rätselhafte Tod des Kindes schien aufgeklärt. Doch dann wurde zwei Tage später Claudia H. festgenommen und blieb in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft Hanau klagte auch sie wegen Mordes an: Claudia H. soll ihren vierjährigen Sohn mit Haferschleim »vollgestopft«, anschließend in einen Leinensack gesteckt, den Sack kopfüber zugeschnürt und das Haus verlassen haben.
Jan blieb in der Obhut der Pastorengattin Sylvia D., die das Kind als »die Reinkarnation Hitlers« sah und mit Absicht ersticken ließ.
Ihr Ehemann steht ihr bei
Claudia H. wehrt sich gegen die Vorwürfe, sie trage Verantwortung an dem grausamen Tod ihres Sohnes. Sie ist 60 Jahre alt, Biologin, promoviert. Im Publikum sitzt ihr Ehemann, Jans Vater. Er hält zu seiner Frau. Auch Sylvia D.s Verteidiger sitzt im Zuschauerraum; er hat gegen das Urteil Revision eingelegt, eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes steht noch aus.
Im Saal 215 geht es um Claudia H.s Leben in jenem Sommer 1988, um ein auffallend distanziertes Verhältnis zu ihrem eigenen Kind und um ihre Rolle in einer religiösen Selbsthilfegruppe, die jahrzehntelang existierte und für sie wichtiger gewesen zu sein scheint als die eigene Familie. Mit Mann und Sohn hatte sich Claudia H. im Haus des früheren Pastors, dem Gründer des sektenähnlichen Verbundes, einquartiert und mit ihnen und anderen Mitgliedern den Alltag dort geteilt.
Es klingt nach einem Zuhause, an das sich Claudia H. klammerte, weil sie unbedingt dazugehören wollte – und das für ihren Sohn keines war. »Er wurde von einem Zimmer ins nächste geschoben«, konstatiert die Vorsitzende Richterin Susanne Wetzel. »Oder sehe ich da etwas falsch?«
Es klingt nach einem verstörenden Zusammenleben, in dem Sylvia D. das Sagen hatte, besonders bei der Erziehung aller Kinder im Haushalt: die sie geboren oder adoptiert hatte – und auch des kleinen Jan. Letzterer versuchte, sich dagegen aufzulehnen. Er sprach nicht mit Sylvia D., er verweigerte sich ihren Regeln. Seine Mutter beschreibt ihn im Gericht als »trotzig und stur« als »negativ« und »knatschig«. Das habe sie »traurig« gemacht, sagte sie, auch weil sich Sylvia D. »so viel Mühe« gegeben habe.
»Vielleicht hatte er Angst vor ihr?«, fragt Richterin Wetzel. Claudia H. zögert, »ja vielleicht«. Sie habe damit gerechnet, dass sich das ändere. Sie könne sich aber lediglich an »Momentaufnahmen« erinnern und daran, dass Sylvia D. »nachsichtiger« mit Jan umgegangen sei als mit ihren eigenen Kindern. Wer den Prozess gegen Sylvia D. verfolgt hat, weiß allerdings: Es war mitnichten so.
»Vielleicht habe ich zu viel erwartet«
Claudia H. beschreibt das Ritual, den Vierjährigen beim Mittagsschlaf in einen Leinensack zu stecken. Sie spricht von »Schlafsäckchen«, in den auch Jans »Ärmchen« gesteckt worden seien, weil er »knatschig und unruhig« gewesen sei. »Ich sah da keine Gefährdung«, sagt sie. Der Sack sei am Hals oder unter den Armen zugebunden worden.
Die Staatsanwaltschaft hingegen spricht von einem Sack, der über dem Kopf verschnürt wurde, sodass Jan darin keine Luft bekam. An jenem 17. August 1988 muss Jan bewusstlos geworden sein, sich erbrochen haben und schließlich erstickt sein. War sein Tod das traurige Ende eines kurzen Lebens voller Folter und Misshandlung? Auch darum geht es in diesem Prozess.
Claudia H. tut sich schwer, klare Antworten zu finden auf die Fragen des Gerichts. Erst in der Untersuchungshaft will sie sich mit den genauen Lebensumständen in der Gemeinschaft Gedanken gemacht haben. Auf 17 Seiten hat sie eine Erklärung aufgeschrieben. Den Prozess gegen Sylvia D. habe sie als »Rachefeldzug« empfunden und die Vorwürfe gegen sie nicht geglaubt, auch weil Sylvia D. sie ihr gegenüber abgestritten habe. Richterin Wetzel wundert sich, dass sich Claudia H. damit zufriedengegeben habe.
»Die Mörderin deckend«
Claudia H. müht sich zu relativieren. Vielleicht habe sie zu viel mit ihrem Sohn geredet, zu viel hinterfragt, zu viel vorausgesetzt, ihn letztendlich überfordert. »Vielleicht habe ich zu viel erwartet«, sagt Claudia H. In ihrer Einlassung schreibt sie, man habe sie als »eiskalt« bezeichnet, »die Mörderin deckend«. Zu Unrecht. Noch immer leide sie unter dem Tod ihres Sohnes, der heute Mitte 30 wäre.
Ihr Verteidiger Thomas Scherzberg kann sich am Ende dieses Verhandlungstages eine Bermerkung nicht verkneifen, die darauf abzielt, dass das Gericht sein Urteil längst gefällt habe. Richterin Wetzel wehrt sich. Keineswegs könne sie schon jetzt eine Einschätzung abgeben, wie das Verfahren ausgehen werde. Alles scheint möglich.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels hieß es, dass Jan heute 40 Jahre alt wäre. Tatsächlich wäre er jedoch erst Mitte 30.