Mordprozess um Morsal Obeidi Gehasst, geliebt, getötet
Hamburg - Morsal war eine ganz normale 16-Jährige: Sie ging gerne Klamotten kaufen, schminkte ihre Lippen und zupfte sich die Augenbrauen, war frech und manchmal vorlaut, hatte kein großes Interesse an der Schule, rauchte, lotete teenagerhaft bei Eltern und Geschwistern Grenzen aus.
Doch Morsal musste das, was für viele pubertierende Mädchen Alltag ist, mit ihrem Leben bezahlen.
Die kurzen Röcke, die in den Augen ihrer Familie zu kurz waren, die engen Shirts, die in den Augen ihrer Familie zu eng waren, das grelle Make-up, das in den Augen ihrer Familie zu grell war, die laute Musik, die nach Meinung ihrer Familie zu laut war. Seine Schwester kleide sich wie eine "verdammte Schlampe" sagte Ahmad Obeidi im Januar 2007 der Polizei.
Morsal Obeidi starb am 15. Mai 2008 in einem Krankenwagen in der Nähe der Hamburger U-Bahn-Haltestelle Berliner Tor, getötet von ihrem Bruder, der sie auf einen schwach beleuchteten Parkplatz lockte und dann wie in einem Rausch 23 Mal auf sie einstach. Die zehn Zentimeter lange Klinge verletzte Morsal an Armen und Beinen, an Oberkörper und Gesäß. Mehr als eine Stunde kämpften die Notärzte um Morsals Leben. Vergeblich. Zwei Herz- und zwei Lungenstichverletzungen waren tödlich.
Seit diesem Dienstag muss sich Ahmad Obeidi wegen Mordes vor dem Hamburger Landgericht verantworten.
Morsal kämpfte vergeblich, aber nie heimlich
Morsals Schicksal ist gut dokumentiert. Dutzende dürre Aktenvermerke in teils kryptischem Amtsdeutsch lassen darauf schließen, dass das kurze Leben der jungen Deutsch-Afghanin vor allem eins was: ein Kampf zwischen den Welten. Der Versuch, wie ein deutsches Mädchen zu leben und gleichzeitig nicht mit ihren Eltern zu brechen.
Für Morsal war es nicht weniger als ein täglicher Kampf darum, so sein zu können, wie sie wollte. Es war kein heimlicher Kampf: Die 16-Jährige, die von Freunden, Lehrern und Sozialarbeitern als lebenslustiges und vorlautes, aber auch stark verängstigtes Mädchen beschrieben wird, erzählte recht offen von den Qualen, die sie zu Hause erleiden musste.
Von den Schlägen des Vaters, von dem jüngeren Bruder, der sie würgte, der Schwester, die ihr das Gesicht zerkratzte, den Tritten Ahmads, der mitunter sogar Tackernadeln in ihren Körper drückte, von ihrer Verschleppung nach Afghanistan, wo die Eltern hofften, die aufmüpfige Tochter nach ihren Vorstellungen erziehen zu können.
Morsals Freundinnen wussten von ihrem Leid, auch ihre Lehrer, die Polizisten, bei denen sie immer wieder Anzeige gegen ihre Eltern und auch ihren Bruder erstattete, die Sachbearbeiter beim Jugendamt, die Pädagogen im Kinder- und Jugendnotdienst (KJND).
Morsal hoffte, die Familie habe sich geändert
Morsal versucht immer wieder, ihrem Elternhaus zu entkommen und sich aus der Spirale aus Gewalt und Demütigung zu befreien.
2006 meldet sie sich zum ersten Mal beim Kinder- und Jugendnotdienst, bittet um Hilfe. In den folgenden Jahren ist es ein ewiges Hin und Her: Morsal sucht Hilfe, zieht für ein paar Tage in geschlossene Heime und Wohngruppen. Die meisten Vermerke enden mit dem Satz: "Morsal verlässt die Einrichtung". Sie kommt und geht, insgesamt 20 Hilfsangebote macht der KJND, doch am Ende können die Mitarbeiter ihr nicht helfen.
Das junge Mädchen will nicht mit seiner Familie brechen. Wenige Tage nur hält sie es zuletzt im April 2008 in der Jugendhilfeeinrichtung "Hopeful Hearts" in der Nähe Hamburgs aus - sie telefoniert ständig mit ihren Verwandten, verlässt das Heim schließlich auf eigenen Wunsch. "Sie will wieder in der Familie leben", heißt es in einem Vermerk. "Allerdings nur dann, wenn die Eltern das täten, was sie wolle." Der Vater will Morsal wieder aufnehmen, "allerdings müsse sie sich an die Vorgaben der Familie halten", heißt es in den Akten.
Morsal hofft, ihre Familie habe sich geändert. Die Familie hofft, Morsal habe sich geändert.
Ein Bruch mit Vater und Mutter kam für Morsal nicht in Frage
Vielleicht war die Tragödie bereits im April 2008 absehbar - wenn nicht schon viel früher. Vielleicht waren all die Narben, mit denen Morsals Körper überzogen war, Ausdruck genug für ein verkorkstes Leben und den ständigen Kampf. Doch ein Bruch mit Vater und Mutter kam für den Teenager nicht in Frage, Morsal suchte immer wieder die Nähe der Familie - so unheilvoll diese letztlich auch war.
Gutachten beschreiben das Verhältnis von Morsal und ihrem Bruder als "ambivalent" - eine Hassliebe mit tödlicher Folge. Morsal fürchtet ihren Bruder und sie liebt ihn, beide eint die Angst vor dem Vater, ein ehemaliger Kampfpilot, der 1992 aus Afghanistan nach Deutschland zog - doch nie in diesem fremden Land angekommen ist.
Beide Geschwister kämpfen auf ihre Weise um Anerkennung und Freiheit - doch Ahmad scheitert, wird kriminell. Mit 13 fällt er der Polizei zum ersten Mal auf, seither ist er rund 30 Mal strafrechtlich in Erscheinung getreten. Körperverletzung, Bedrohung, Diebstahl. Ahmad gilt bei der Polizei als Intensivtäter.
Anklage: Mord
Nun steht Ahmad in Hamburg vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, seine Schwester am 15. Mai "heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen getötet zu haben". Die Anklage lautet auf Mord.
Das Mordmerkmal der Heimtücke sieht der Sprecher der Hamburger Staatsanwaltschaft, Wilhelm Möllers, als erfüllt an, da Ahmad Obeidi "mit einem zunächst versteckten Messer ohne Vorwarnung" auf seine Schwester einstach, nachdem er sie mithilfe eines Cousins, der als Lockvogel agierte, in einen Hinterhalt gelockt hatte. Ahmad, so heißt es in der Anklage, habe sich ihr "feindselig genähert" und "völlig überraschend zugestochen".
Das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe sieht die Staatsanwaltschaft dadurch erfüllt, dass Ahmad im Glauben handelte, Morsal habe sich "von der Familie abgewandt, sich unangemessen bekleidet in der Öffentlichkeit bewegt und als Prostituierte gearbeitet."
"Seine Schwester führte einen Lebenswandel, der nicht seinen Wertvorstellungen entsprach", sagt Wilhelm Möllers, Sprecher der Hamburger Staatsanwaltschaft, SPIEGEL ONLINE. Anhaltspunkte, dass Ahmad im Auftrag seiner Familie handelte, hat die Staatsanwaltschaft nicht gefunden.
"Unseren Erkenntnissen zufolge war er zum Tatzeitpunkt voll schuldfähig", erklärt Möllers. Ahmad Obeidi stand demnach weder unter Alkohol- noch unter Drogeneinfluss. "Wir gehen davon aus, dass er das Treffen zielgerichtet arrangierte, um seine Schwester zu töten."
Zwischen Sippenhaft und individueller Schuld
Die Verteidiger des 24-Jährigen gehen dagegen von einer "impulshaften Tat" aus. Nach Überzeugung der Rechtsanwälte hat es am Tatort noch einen Dialog zwischen Morsal und ihrem Bruder gegeben - auf eine Frage des Bruders habe Morsal eine Antwort gegeben, die ihn sehr verärgert habe. "Unserer Meinung nach war die Tat nicht von langer Hand geplant", sagt Rechtsanwalt Hartmut Jacobi SPIEGEL ONLINE.
"Es liegt ein Gutachten vor, demzufolge §21 Strafgesetzbuch anzuwenden ist und wir von verminderter Schuldfähigkeit ausgehen müssen. Konsequenz wäre eine Freiheitsstrafe, die nicht unerheblich ist, aber eben keine lebenslange Haft bedeutet."
Basis für die Anwendung von §21 des Strafgesetzbuches ist ein psychiatrisches Gutachten, das unter anderem auf Ahmads Erlebnisse in seiner Jugend, seine Stellung in der Familie und eine mögliche intellektuelle Minderbegabung abhebt. "Ich sehe gute Chancen, das Lebenslänglich abzuwenden", so Jacobi.
Der zweite Verteidiger, Thomas Blewier, spricht von einer "Affekttat" und hält den Begriff des "Ehrenmordes" für unangemessen: "Es handelt sich um eine furchtbare Familientragödie, die wir auch in deutschen Familien erleben könnten. Aber wenn beispielsweise ein deutscher Ehemann aus gekränkter Eitelkeit seine Frau umbringt, lese ich nichts von einem Ehrenmord."
Bei Ahmad Obeidi handele es sich um eine "hochproblematische Person", die eine sehr schwierige Kindheit gehabt habe. "Morsal und Ahmad Obeidi hatten eine hochemotionale Bindung und haben beide schon früh Gewalt innerhalb der Familie erlebt", sagt Blewier SPIEGEL ONLINE. "Wir werden im Prozess wegkommen müssen von der Vorstellung, dass wir es mit einem jungen Mann zu tun haben, der kaltblütig seine Schwester ermordet hat."
Für das bis Februar dauernde Verfahren sind zehn Verhandlungstage angesetzt. Allein die Anklage hat 33 Zeugen und drei Sachverständige benannt. Welche Rolle das Gericht den kulturellen Vorstellungen Ahmads beimessen wird, bleibt abzuwarten.
Fest steht: Ahmad und Morsal Obeidi haben beide auf ihre Weise mit ihrem Leben und ihren Freiheiten gerungen. Ihre Eltern haben am Abend des 15. Mai zwei Kinder auf einmal verloren.