Tote und Verletzte in Münster Mitten ins Leben
Um 16.40 Uhr kam die erste SMS. Ob es ihr gut gehe, fragte ein Freund, was denn passiert sei. Fünf Minuten später klingelte das Handy erneut, wenig später waren es schon 15 Nachrichten. Ja, sagt die Frau mit dem rotgefärbten Haar ein paar Stunden danach, eigentlich gehe es ihr ganz gut. Sie steht in der Lobby des "Hotel Kaiserhof" - mit Tränen in den Augen und leicht zitternder Stimme. Dieser Frau geht es nicht gut.
Monique H., den Nachnamen möchte sie nicht verraten, war nah dran, sehr nah. Als an diesem Nachmittag der silbergraue Kleinbus in die Menschen fuhr, die im Schatten der "Kiepenkerl"-Statue an den Tischen saßen und das sommerliche Wetter genossen. Als Panik in der Altstadt von Münster ausbrach, als Dutzende Menschen zum Teil schwere Verletzungen erlitten, als mehrere starben - auch der Fahrer, der sich selbst erschoss.
Wenige Minuten zuvor hatte sie sich genau dorthin setzen wollen, sagt Monique H. Spontan habe sie sich jedoch für ein anderes Café entschieden, ein paar Häuser weiter, weil es dort nicht so voll war. "Ich wollte eigentlich nach Paris fahren übers Wochenende", sagt die Luxemburgerin, spontan habe sie sich dann umentschieden: weil Münster den Ruf habe, beschaulich zu sein. "Ich wollte einfach etwas Ruhe haben."
Der "Kiepenkerl", so hießen im Münsterland einst die Handelsreisenden, ist eines der wichtigsten Wahrzeichen der Stadt. An dem Platz gibt es die Traditionslokale "Kleiner Kiepenkerl" und "Großer Kiepenkerl", dort sitzen bei gutem Wetter etliche Gäste, viele Touristen stärken sich dort. Wählte der Angreifer, der psychische Probleme gehabt haben soll, gezielt diesen Ort? Wollte er möglichst viele Menschen verletzten und töten? (Mehr zum Täter lesen Sie hier.)
Melanie R., eine 27-jährige Studentin, steht am Samstagnachmittag neben ihren Eltern. Die drei wollten gerade in das Café gehen, als ihr Vater die beiden Frauen an den Schultern fasste und zurückhielt. "Ich habe den Wagen in die Straße abbiegen sehen", sagt er. Seine Tochter Melanie blickt zu Boden: "Wir sind stehen geblieben und haben gesehen, wie der Wagen in die Leute gefahren ist", sagt sie. "Ich glaube, er war gar nicht so schnell, viele konnten rechtzeitig aufspringen und wegrennen." Die Familie lief zurück, brachte sich in Sicherheit. "Wir haben dann nur noch die Schreie gehört", sagt der Vater.
Maik Hörste rannte aus einer Bäckerei, weil er die in Panik geratenen Menschen auf der Straße sah: "Überall lagen Stühle, die Leute versuchten, sich gegenseitig von der Straße zu ziehen, es war wie in einem Actionfilm."
Solch konkrete Erinnerungen hat Monique H. nicht: "Das ging so schnell." Eine Stunde lang blieb sie nach dem Vorfall im Spiekerhof, so heißt die Straße am Tatort. Warum rannte sie nicht weg? Weil sie keine Angst gehabt habe, sagt H. - und weil sich sofort ein Gefühl der Solidarität ausgebreitet habe, des Miteinanders: "Das war wohltuend, mit fremden Menschen darüber zu sprechen."
Die Polizei war Augenzeugen zufolge schnell vor Ort. Zahlreiche Hubschrauber schwebten durch die Luft, die Schwerverletzten wurden zum nahe gelegenen Schlossplatz gebracht und dort versorgt. Die Einsatzkräfte sicherten den Anschlagsort und sperrten das Gebiet weiträumig ab. Die Polizei evakuierte alle umliegenden Gebäude, viele Anwohner fanden im Stadttheater einen Unterschlupf, andere verteilten sich auf die umliegenden Cafés, Restaurants und Rasenflächen.
"Das Ganze ist eine riesige Tragödie", sagt Maik Hörste, "aber die Polizei hat hier einen super Job gemacht." Es war ein Großeinsatz, wie es ihn in Münster vielleicht noch nie gegeben hat: Nahezu alle verfügbaren Einsatzkräfte aus Nordrhein-Westfalens kamen im Laufe des Nachmittags in die Stadt, darunter Beamte der Bereitschaftspolizei BFE+ und der Anti-Terror-Spezialeinheit GSG9. Der große Aufwand hatte auch damit zu tun, dass lange unklar war, was sich im hinteren Teil des Tatwagens befand: Sprengstoff?

Auto fährt in Menschenmenge: Tote und Verletzte in Münster
Gegen 19:30 Uhr rückte ein weiteres Spezialkommando an, das den Wagen näher inspizierte. Fast zeitgleich fuhren Einheiten zu einer Wohnung nahe dem Hauptbahnhof; dort soll der Täter gelebt haben. Kurz darauf ertönte ein lauter, dumpfer Knall. Die Anwohner auf der Straße zuckten zusammen, aus einem Wettbüro strömten Menschen nach draußen. Die Polizei gab keine Auskünfte, möglicherweise handelte es sich um die "kontrollierte Sprengung" eines verdächtigen Gegenstandes. Kurz darauf gingen weitere Polizisten in die Wohnung, der Einsatz dauerte noch bis in die Nacht hinein.
Es ist ein Tag, der Spuren hinterlassen wird in dieser sonst so beschaulichen, friedlichen Stadt. Vor allem bei den Verletzten und den Angehörigen der Opfer - aber auch bei Menschen wie der Touristin Monique H. Als beigeordnete Bürgermeisterin in ihrem Heimatort habe sie schon viele schlimme Dinge erlebt, sagt die Luxemburgerin und berichtet von einem verheerenden Großbrand. "Und Anschläge wie der auf 'Charlie Hebdo' haben mich natürlich auch betroffen gemacht. Aber das war alles so weit weg."
Diesmal war Monique H. in Rufweite. "Man ist nirgends mehr sicher", sagt sie tonlos zum Abschied, "selbst da nicht, wo man sich sicher fühlt." Und dann, im Weggehen, dreht sie sich noch einmal kurz um: "Ich bleibe trotzdem bis übermorgen in Münster, wie vorgesehen", sagt sie. "Warum auch nicht? Alles andere wäre falsch."