Murat Cem alias VP01 im Amri-Untersuchungsausschuss »Ich rate jedem davon ab, V-Mann zu werden«

Anschlag am Breitscheidplatz (Archivbild)
Foto: Bernd von Jutrczenka/ DPAEin Untersuchungsausschuss des Bundestags hat hinter verschlossenen Türen einen früheren V-Mann im Umfeld des Breitscheidplatz-Attentäters Anis Amri befragt. Dabei bestätigte der unter seinem Tarnnamen Murat Cem bekannt gewordene Informant laut Teilnehmern, dass er die Behörden im Jahr vor dem Anschlag mehrfach vor dem Terroristen gewarnt habe. Es wäre ihm lieber gewesen, er hätte sich mit seiner Einschätzung geirrt, sagte Cem demnach.
Um seine Identität zu schützen, war der frühere V-Mann der nordrhein-westfälischen Polizei per Video zugeschaltet, sein Gesicht und seine Stimme wurden verfremdet. Die Befragung zog sich insgesamt fast sechs Stunden. Wegen der Corona-Pandemie musste die Sitzung mehrfach zum Lüften unterbrochen worden.
»Der Zeuge wirkte klar und gut sortiert und hat sich nicht in Widersprüche verwickelt«, so Irene Mihalic, Obfrau der Grünen im Ausschuss, nach der Sitzung. »Wir haben heute wichtige Einblicke zum Einsatz von V-Personen bekommen«, sagte der CSU-Abgeordnete Volker Ullrich. »Es war wichtig, dass der Bundestag diesen Zeugen gehört hat.«
Undercover: Ein V-Mann packt aus - Ein SPIEGEL-Buch
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29.05.2023 10.48 Uhr
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Der SPIEGEL hatte im März enthüllt, dass der von den Behörden als VP01 geführte Cem die Polizei eindringlich auf Amris Gefährlichkeit hingewiesen hatte. Dennoch verloren die Behörden den späteren Attentäter im entscheidenden Moment aus den Augen.
Im Mai erschien dazu das SPIEGEL-Buch »Undercover« über Cems Leben, der fast 20 Jahre lang für die Polizei Kriminelle und Terroristen ausspioniert hatte. Die Abgeordneten des Untersuchungsausschusses im Bundestag hielten ihm am Freitag auch Auszüge daraus vor. Nach Angaben von Teilnehmern bestätigte Cem die Darstellung des Buches.
Amri verübte im Dezember 2016 einen Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz, insgesamt tötete er zwölf Menschen. Bei dem Anschlag soll er von einem Hintermann der Terrormiliz »Islamischer Staat« per Handy angeleitet worden sein.
Nach Angaben der Abgeordneten habe sich Cem weniger als ein V-Mann gesehen, sondern eher wie ein Hilfspolizist. Er habe glaubhaft versichert, dass es ihm bei seinem verdeckten Einsatz in der Islamistenszene nicht vorwiegend um Geld gegangen sei, sondern um die Sicherheit des Landes. »Ich wäre für euer Land gestorben«, sagte Cem, der türkischer Staatsbürger ist. »Ich wollte Deutschland etwas Gutes tun.« Nach seiner Abschaltung als Informant, so beklagte Cem, habe ihn der Staat im Stich gelassen . »Ich rate jedem davon ab, V-Mann zu werden.« Hinterher hätten ihn die Zeugenschützer der Polizei »wie den letzten Dreck behandelt«.
Benjamin Strasser, FDP-Obmann im Ausschuss, fordert klarere Regelungen. »Wir brauchen ein V-Personen-Gesetz für die Polizei«, sagte er nach der Sitzung. »Der Umgang mit ihnen während und nach ihrem Einsatz in der Extremistenszene ist bislang völlig unzureichend geregelt.« Ähnlich äußerte sich die Grünenpolitikerin Mihalic. »Der Einsatz von V-Personen bei der Polizei muss von Grund auf neu geregelt werden«, sagte sie.
Cems Aussage vor dem Untersuchungsausschuss sollte zuvor mehrfach verhindert werden. Nordrhein-Westfalens Innenministerium hatte sich mit Verweis auf Sicherheitsbedenken gegen die Aussage Cems ausgesprochen. Auch die Polizei hatte öffentliche Auftritte ihres Spitzeninformanten vor Gerichten oder Parlamenten stets verhindert. Dies sei zu gefährlich für Cem, hieß es bislang stets.