
Anstieg sexueller Gewalt in Haiti: Menschenrechtler fordern Schutz durch die Regierung
Nach Erdbeben in Haiti Zahl der Vergewaltigungen steigt rasant
Port-au-Prince - Seit dem folgenschweren Erdbeben in Haiti vor fast einem Jahr sind Frauen und Mädchen in den Notunterkünften des Landes laut Amnesty International zunehmend sexueller Gewalt ausgesetzt. Allein für die ersten 150 Tage nach dem Beben am 12. Januar 2010 seien in den Zeltstädten in der Hauptstadt Port-au-Prince und im Süden des Landes mehr als 250 Vergewaltigungen registriert worden, erklärte die Menschenrechtsorganisation am Donnerstag in London anlässlich der Veröffentlichung einer neuen Studie.
Nahezu täglich wendeten sich Frauen wegen sexueller Misshandlungen bei Opferschutzstellen, meist nach nächtlichen Übergriffen bewaffneter Männer, erklärte die Organisation. "Frauen, die nach dem Erdbeben bereits mit dem Verlust ihrer Liebsten, ihres Zuhauses und ihrer Existenzgrundlage zurechtkommen müssen, fühlen sich nun zusätzlich von der Gefahr sexueller Übergriffe bedroht", erklärte Wissenschaftler Gerardo Ducos. Für die Studie "Nachbeben: Frauen reden offen über sexuelle Gewalt in Haitis Lagern" führte Amnesty Gespräche mit 50 Opfern von Vergewaltigungen.
"Ich habe Angst, dass es wieder geschieht"
Im Rahmen der Untersuchungen berichtet die Organisation von einem 14-jährigen Mädchen in einem Notlager im Südwesten von Port-au-Prince, das in einer Toilette vergewaltigt worden sei. "Ein Junge kam hinter mir her, öffnete die Tür, hielt mir den Mund zu und machte mit mir, was er wollte", wurde sie von Amnesty zitiert.
Die 14-Jährige sei nicht zur Polizei gegangen, weil sie den Jungen nicht gekannt und daher eine Anzeige für aussichtslos gehalten habe, hieß es weiter. "Ich fühlte mich die ganze Zeit über traurig und habe Angst, dass es wieder geschieht." Eine andere Frau sei zusammen mit einer Freundin von einer Gruppe von Männern in ihrem Zelt vor den Augen ihrer beiden Söhne vergewaltigt worden, berichtete Amnesty. Ein Krankenhaus habe sie wegen Geldmangels nicht aufgesucht.
Für die gefährliche Situation in den Notunterkünften, in denen noch immer rund eine Million Menschen untergebracht sind, macht die Menschenrechtsorganisation vor allem mangelnde Sicherheitsvorkehrungen seitens der Behörden verantwortlich. Insbesondere die Polizei kümmere sich nicht ausreichend um die Beschwerden von Vergewaltigungsopfern. Diese erhielten meist zur Antwort, die Beamten könnten nichts ausrichten.
Rechtssystem nach Erdbeben zusammengebrochen
"Haitis ohnehin schwaches Rechts- und Ordnungssystem" sei nach dem Beben "vollständig" zusammengebrochen, erklärte Ducos. Zudem seien die Zeltstädte völlig überfüllt und kaum zu überblicken. Dies mache es den Vergewaltigern leicht, sich dort ihre Opfer zu suchen. Hinzu komme die Tatsache, dass sie in der Regel keinerlei Strafen zu befürchten hätten.
Die nach der Präsidentenwahl vom Dezember neu zu bildende Regierung müsse den Schutz von Frauen und Mädchen in den Unterkünften sicherstellen, forderte Gerardo Ducos. "Dies ist bisher angesichts der großflächigen humanitären Krise weitgehend versäumt worden."
Bei der Katastrophe waren rund 250.000 Menschen gestorben, etwa 1,3 Millionen wurden obdachlos. Besonders hart wurde Port-au-Prince getroffen. Im Oktober brach zudem eine Cholera-Epidemie aus, an der bisher mehr als 3000 Menschen starben. Die Präsidentschaftswahl vom 28. November wurde von Unruhen und Betrugsvorwürfen überschattet.