Kampusch-Entführer Priklopil Staatsanwaltschaft prüft Zweifel an Selbstmordtheorie

Polizisten zeigen Foto von Wolfgang Priklopil (August 2006): Wurden Ermittlungsansätze übersehen?
Foto: A2918 epa apa Hans Klaus Techt/ dpaHaltestelle Wien Nord, Gleis eins, Zug 23786 setzt sich in Richtung Floridsdorf in Bewegung. Er beschleunigt auf 45 Kilometer pro Stunde. Nach etwa 500 Metern entdeckt der Lokführer eine Gestalt, quer auf dem Gleis, er bremst. Zu spät. Der dreiteilige Wagen erfasst die Person, schleift sie 1,80 Meter weit mit und hält. Rettungshelfer bergen kurz darauf zwischen den Stationen Praterstern und Traisengasse die Leiche von Wolfgang Priklopil, 44, dem mutmaßlichen Entführer von Natascha Kampusch. Es ist der 23. August 2006, gegen 20.50 Uhr.
Der Tod Wolfgang Priklopils ist das Ende eines spektakulären Verbrechens und der Beginn eines umstrittenen Kriminalfalls. Am 2. März 1998 war Natascha Kampusch, damals zehn Jahre alt, in der Wiener Donaustadt auf dem Weg zur Schule in einen Wagen gezerrt und entführt worden. Sie sagt, sie sei jahrelang von Wolfgang Priklopil gefangen gehalten worden, in einem Verlies in seinem Haus in Strasshof bei Wien. Am 23. August 2006 sei ihr die Flucht zu Nachbarn gelungen, ein Streifenwagen holte sie ab, die Polizei schrieb ihren Entführer zur Fahndung aus.
Wolfgang Priklopil fuhr laut Ermittlungsakten in seinem BMW in ein Einkaufszentrum im 22. Wiener Bezirk. Fahnder entdeckten Priklopils Auto später im dazugehörigen Parkhaus. Am Abend wurde seine Leiche gefunden.
Ermittler prüfen Argumente
Nahm sich Wolfgang Priklopil das Leben? Oder war er bereits tot, als der Zug ihn erfasste? Wurde seine Leiche auf die Gleise gelegt? Bei der Oberstaatsanwaltschaft Wien ist nun Strafanzeige gegen unbekannt wegen des Verdachts des Mordes an Wolfgang Priklopil eingegangen.
Die "inhaltlichen Argumente" würden derzeit geprüft, sagt ein Sprecher der Oberstaatsanwaltschaft. Aber das könne dauern. Die "damals Zuständigen mit der entsprechenden Sachkenntnis" seien inzwischen an anderen Stellen tätig, das Aktenmaterial immens.
Karl Kröll hat die Anzeige erstattet. Er sitzt in einem Kaffeehaus am Wiener Karlsplatz, er ist gesundheitlich schwer angeschlagen. Jahrelang hat sein inzwischen verstorbener Bruder den Entführungsfall untersucht: Franz Kröll, Oberst bei der Wiener Polizei, hatte die Arbeit des Landeskriminalamtes Burgenland und der Adamovich-Evaluierungskommission (benannt nach Ludwig Adamovich, dem Präsidenten des österreichischen Verfassungsgerichtshofes) beobachtet und gemeinsam mit dem Bundeskriminalamt die Sonderkommission Kampusch geleitet.
Das Ergebnis aber, es gebe "keinen weiteren Erfolg versprechende Ermittlungsansätze", missfiel Franz Kröll. Er hielt den Fall weder für aufgeklärt noch die Theorie für bewiesen, Priklopil sei ein Einzeltäter gewesen. Er weigerte sich, am 8. Januar 2010 an der Pressekonferenz teilzunehmen, auf der die Einstellung des Verfahrens verkündet wurde. Der sonst geschätzte Ermittler galt nun als Querulant. Am 24. Juni 2010 wurde er tot auf seiner Terrasse in Graz gefunden, mit einem Kopfschuss aus seiner Dienstwaffe. Angeblich Suizid.
"Mir geht es nicht um Rache"
Der Tod des Bruders hat Karl Krölls Leben verändert, er kämpft seither um die weitere Aufklärung des Falls, in Behördenkreisen ist nun er der Querulant und Verschwörungstheoretiker. "Mir geht es nicht um Rache oder Rehabilitation vom Franz", sagt Karl Kröll mit heiserer Stimme. "Wer nichts gegen einen Mordverdacht unternimmt, begünstigt Tatverdächtige. Dazu bin ich nicht bereit."
Unterstützung erfährt Kröll von Johann Rzeszut, ehemaliger Präsident des Obersten Gerichtshofs in Wien und Mitglied der Evaluierungskommission, die das Innenministerium zur Aufdeckung möglicher Ermittlungspannen im Fall Kampusch beauftragt hatte. Rzeszut hat ein Buch geschrieben, mit dem er belegen will, dass Priklopil bereits tot war, als er überrollt wurde. Er ist davon überzeugt, dass lediglich die Knochenbrüche in Priklopils Hinterkopfbereich durch den Zugkontakt verursacht wurden. Richter Rzeszut stützt sich auf Unterlagen, die der Evaluierungskommission, in der er mitwirkte, nicht vorgelegen haben.
Nach Ansicht von Kröll und Rzeszut wurde in den Ermittlungen die Beschaffenheit der Vorderfront des Zuges 23786 vernachlässigt. "Daher wurde auch der Frage nicht nachgegangen, ob die Verletzungen des toten Priklopil überhaupt durch den Kontakt mit der Triebwagenvorderfront verursacht worden sein konnten", sagt Rzeszut. Die Halsdurchtrennung und der oval gestanzte Knochenbruch in der rechten Scheitelgegend könnten nicht auf der Gleisstraße der Schnellbahn geschehen sein. Damit sei das Gutachten der Obduktion "völlig unhaltbar". Die Rechtsmediziner gaben zu Protokoll, dass Priklopil "am ehesten in Bauchlage im Schienenbereich, mit dem Hals auf einer Schiene, von rechts überrollt worden sein dürfte".
"Es war immer eine apodiktische Prämisse"
Was in den sechs Stunden geschah, in denen Priklopil auf der Flucht war, stützt sich auf die Aussage von Ernst H., Priklopils Freund und Geschäftspartner. Nach bisherigem Ermittlungsstand erhielt er nach 14 Uhr einen Anruf von Priklopil, mit der Bitte, ihn in jenem Einkaufszentrum abzuholen. Er habe Priklopil eine Art Lebensbeichte abgenommen, sagt Ernst H. Priklopil habe die Entführung Natascha Kampuschs und ihre jahrelange Gefangenschaft gestanden.
Gegen 20 Uhr will Ernst H. seinen Kumpel in der Nordbahnstraße, 22. Wiener Bezirk, abgesetzt haben. Den Ermittlern präsentierte Ernst H. einen Zettel mit der Aufschrift "Mama", den Priklopil ihm beim Aussteigen noch in die Hand gedrückt habe. Er soll von Priklopil stammen, ein Abschiedsgruß für seine Mutter.
Der Zettel nährte in der Adamovich-Kommission den Verdacht, Priklopil könne getötet worden sein: Die graphologische Spezialabteilung des Bundeskriminalamtes sei zu dem Ergebnis gekommen, dass die Schrift nicht mit der Priklopils übereinstimme, sagt Rzeszut. Außerdem sei Ernst H. zwar mehrfach vernommen worden, allerdings "auf Justizebene zum Verdacht der Beteiligung an der Kampusch-Entführung bis heute nie".
Der österreichische parlamentarische Geheimausschuss von 2012 zweifelte die Selbstmord-Theorie ebenfalls an, ein Evaluierungsbericht von internationalen Experten bestätigte hingegen 2013 wieder den Suizid Priklopils. "Es war immer eine apodiktische Prämisse, dass sich Priklopil umgebracht hat", sagt Rzeszut.
Sollte Priklopil nicht freiwillig aus dem Leben geschieden sein: Wer könnte ein Interesse an seinem Tod haben? Ein Komplize, ein Beteiligter der damaligen Entführung? Einer, der all die Jahre gewusst hat, dass Natascha Kampusch in Strasshof gegen ihren Willen festgehalten wird?
Es würde in jedem Fall die Aussage der einzigen Tatzeugin stützen: Seit dem Entführungstag, dem 2. März 1998, behauptet eine Frau, damals zwölf Jahre alt, sie habe gesehen, wie Natascha Kampusch von einer Person in einen weißen Lieferwagen gezogen worden sei. Eine weitere Person habe währenddessen hinter dem Lenkrad gesessen. Bis heute beharrt die Zeugin auf ihre Beobachtungen.
Zusammengefasst: Die Oberstaatsanwaltschaft Wien beschäftigt sich erneut mit dem Tod von Wolfgang Priklopil, dem Entführer von Natascha Kampusch. Anlass ist eine Anzeige wegen Mordes gegen unbekannt. Die Anzeige wurde von Karl Kröll gestellt, dem Bruder von Franz Kröll, dem ehemaligen Chefermittler im Fall Kampusch. Karl Kröll meint, dass nicht ausreichend untersucht worden sei, ob die Verletzungen von Priklopil tatsächlich allein durch den Zug verursacht worden sein können, der den Kampusch-Entführer im August 2006 überrollte.