
Sandy Hook: Wie ein Puzzle, dem Teile fehlen
Abschlussbericht zum Newtown-Massaker "Im Gebäude schießt jemand"
Die Leichen von Schuldirektorin Dawn Hochsprung und ihrer Kollegin Mary Sherlach lagen am Ende des Flurs. Davor hatte jemand eine Schreibtafel platziert. Zu einem ganz bestimmten Zweck, erklärte ein Polizist später: "Damit die Schüler beim Rausgehen nicht auf die Toten schauen mussten."
Fast zwei Dutzend Kinder hatten es ohnehin nicht mehr bis nach draußen geschafft. Beim Amoklauf von Newtown im vergangenen Dezember starben 27 Menschen, darunter 20 Schüler. Am Montag nun, fast ein Jahr später, hat die Staatsanwaltschaft den Abschlussbericht ihrer unter Verschluss gehaltenen Ermittlungen vorgelegt - ein Moment, der kaum verheilte Wunden neu aufreißt, nicht nur in Newtown.
"Nein, wir können uns nicht erklären, warum es geschah", schrieben Angehörige der getöteten Lehrerin Victoria Soto auf Facebook. Wie andere Familien auch hatten sie den Bericht auszugsweise vorab bekommen. "Wir wissen nicht, ob wir jemals einen Tag ohne Schmerzen erleben werden."
Täter "besessen" von Massenmorden
Das Fazit bleibt in der Tat unbefriedigend, trotz erschütterndster Details: Der 20-jährige Killer Adam Lanza hatte psychische Probleme, war "besessen" von Massenmorden und handelte nachweislich alleine - ein klares Motiv aber, das lässt sich bis heute nicht feststellen.
48 Seiten hat der Bericht von Bezirksstaatsanwalt Stephen Sedensky, dazu 231 Seiten Anlagen. Detailliert zeichnet das Dokument die Ereignisse jenes Morgens in der Sandy Hook Elementary School nach - und beleuchtet auch Lanzas eigenbrötlerische Existenz. Vieles wird damit erstmals offiziell bestätigt, da sich die Behörden bisher ausschwiegen. Ganze Passagen des Textes bleiben selbst jetzt geschwärzt - auch um allzu anschauliche Darstellungen des Horrors zu vermeiden.
Amokläufer Lanza brauchte nur fünf Minuten für sein Massaker. Der Bericht notiert die ersten Schüsse für 9.35 Uhr, als Lanza in die Scheiben des verschlossenen Schuleingangs feuerte - ein Foto in dem Report zeigt eine von Splittern übersäte Couch. Eine Minute später ging ein erster Notruf ein, eine weitere Minute später alarmierte die Polizei alle Einheiten: "Im Gebäude schießt jemand."
Um 9.40 Uhr nahm sich Lanza mit einem Kopfschuss das Leben, und alles war vorbei.
Die dramatischen Szenen dazwischen wirken durch die kühle Sprache des Berichts nur umso schrecklicher. Zumal sich in den USA seither politisch nichts getan hat, trotz aller Bekenntnisse von oben zu schärferen Waffenkontrollgesetzen.
Ihre letzten Worte: "Rührt euch nicht!"
Dem Bericht zufolge hatte Lanza drei Waffen bei sich, ein Gewehr und zwei halbautomatische Pistolen mit Hunderten Schuss Munition. Nachdem er sich den Weg freigeschossen habe, sei er erst seelenruhig über den Flur gegangen. Hochsprung und Kinderpsychologin Sherlach hätten nach dem Lärm geschaut. Ihre letzten Worte: "Rührt euch nicht!"
Danach habe Lanza in zwei Klassenzimmern zwei Lehrerinnen, zwei Therapeutinnen und 20 Kinder mit insgesamt 154 Gewehrschüssen getötet und sich dann selbst umgebracht. Die Therapeutin Anne Marie Murphy habe, als die Polizei eintraf, wie schützend über einem der Kinder gelegen. Beide seien tot gewesen.
Lanzas Motiv bleibt im Abschlussbericht im Dunkeln - Schlussfolgerungen bietet das Dokument keine an. Viele Beweise offenbarten aber eine krankhafte "Besessenheit von Massenschießereien".
Was bleibt, sind oft zusammenhanglose Hinweise aus dem Besitz des Täters - wie ein Puzzle, dem Teile fehlen:
• Ein Artikel aus der "New York Times" von 2008 über einen Uni-Amoklauf
• fotokopierte Zeitungartikel von 1891 über Schulschießereien
• drei Fotos einer Leiche, "blutüberströmt und in Plastik gewickelt"
• zwei Videos, die Selbstmorde mit Schusswaffen zeigen
• das Computerspiel "School Shooting"
• das Videogame "Dance Dance Revolution", das Lanza bis zu zehn Stunden am Stück gespielt habe
• Bilder von Hamstern und Lego-Bauten
Bei Lanza wurde dem Bericht zufolge in der sechsten Klasse das Asperger-Syndrom diagnostiziert, eine Form von Autismus. Das allein aber bedeute natürlich noch keine Neigung zu Gewalttaten.
Lanzas Leben habe sich jedoch "zunehmend nach innen gewandt". Die letzten Monate vor der Tat habe er völlig isoliert meist in seinem Zimmer verbracht und auch mit seiner Mutter, deren Schlafzimmer direkt nebenan lag, nur per E-Mail kommuniziert. Mehrere dem Bericht beigefügte Fotos zeigen Lanzas Zimmer - ein spartanisch eingerichteter Raum, dessen zwei Fenster mit schwarzer Plastikfolie verhängt sind.
Trotzdem habe seine geschiedene Mutter Nancy Lanza, 52, nichts Böses geahnt, heißt es weiter: "Die Mutter äußerte nie Furcht vor dem Schützen." Am Abend vor dem Amoklauf sei sie von einer dreitägigen Reise nach New Hampshire heimgekehrt. Am nächsten Morgen habe Lanza ihr im Bett "aus nächster Nähe" mehrmals in den Kopf geschossen.
Dann sei er zur Sandy-Hook-Schule gefahren.