Verdächtiger im Fall »NSU 2.0« »Am offenen Rechner« festgenommen

Jahrelang erhielten Betroffene anonyme Drohschreiben, der »NSU 2.0«-Komplex beschäftigte Polizei und Politik. Nun gibt es einen Verdächtigen, aber noch immer viele offene Fragen. Der Überblick.
Kundgebung im Juli 2020 in Wiesbaden: Mehr als 100 Drohschreiben

Kundgebung im Juli 2020 in Wiesbaden: Mehr als 100 Drohschreiben

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Arne Dedert / dpa

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Drei Jahre lang erhielten fast drei Dutzend Menschen Drohmails, die mit der Chiffre »NSU 2.0« unterschrieben waren – nun endlich zeichnet sich eine Aufklärung ab: Spezialkräfte der hessischen Polizei haben am Montag bei einer Wohnungsdurchsuchung in Berlin einen verdächtigen 53-Jährigen festgenommen. Noch sind viele Fragen offen, ein Überblick über den Fall:

Worum geht es?

Seit August 2018 gingen bundesweit bei Betroffenen Schreiben mit volksverhetzenden, beleidigenden und drohenden Inhalten ein. Die Abkürzung »NSU 2.0« unter den Nachrichten verweist auf die rechtsextremistische Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund«, die zwischen 2000 und 2007 zehn Morde in Deutschland verübte.

Zu den Empfängerinnen der Nachrichten gehörten unter anderem die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız, die Kabarettistin İdil Baydar und die heutige Linkspartei-Chefin Janine Wissler. Auch Bundestagsabgeordnete und Medienschaffende waren unter den Opfern.

Allein bis Mitte März dieses Jahres registrierten die Behörden laut dem hessischen Innenminister Peter Beuth (CDU) 133 Drohschreiben, von denen 115 dem Tatkomplex »NSU 2.0« zugerechnet werden. Die Schreiben richteten sich demzufolge an 32 Personen und 60 Institutionen in insgesamt neun Bundesländern und in Österreich. Versendet wurden sie vor allem als E-Mails, aber auch per Fax, per SMS sowie über Internetkontaktformulare.

Die Schreiben enthielten demnach eine Vielzahl personenbezogener Daten zu mehr als 20 der Betroffenen. Beuth hatte im vergangenen Jahr einen Sonderermittler ernannt, nachdem klar war, dass die Daten einiger Empfänger von hessischen Polizeicomputern abgefragt worden waren.

Eine Spur führte zu fünf Polizisten und einer Kollegin eines Frankfurter Polizeireviers. Unmittelbar vor dem Versenden des ersten Faxes an Seda Başay-Yıldız waren dort Daten über die Anwältin abgefragt worden. Die Beamten sollen außerdem in einer Chatgruppe namens »Itiotentreff« Hitlerbilder und Hakenkreuze geteilt haben.

So kam der Verdacht auf, dass ausgerechnet Angehörige der Polizei den »NSU 2.0« unterstützt oder sogar erfunden haben könnten. Die beschuldigten Frankfurter Beamten wurden suspendiert, die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen auf. (Mehr darüber erfahren sie hier. )

Wer ist der jetzt gefasste Tatverdächtige?

Er ist kein Polizist, sondern ein Langzeitarbeitsloser aus Berlin. Nach SPIEGEL-Informationen heißt der Verdächtige Alexander M. und ist 53 Jahre alt. Der gelernte Facharbeiter für elektronische Datenverarbeitung ist vorbestraft, unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung, Betrugs, Hehlerei, Bedrohungen, Beleidigungen, Verleumdungen, Besitzes kinderpornografischer Schriften und Urkundenfälschung.

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Die Berliner Polizei führte gegen M. bereits Dutzende Verfahren. Über ein mögliches Tatmotiv ist bislang nichts bekannt. Es gibt bislang auch keine weiteren Details über das Vorleben des Verdächtigen.

Wie kamen die Ermittler dem Mann auf die Spur?

Die Behörden teilten mit, die Polizeiaktion in Berlin sei das Ergebnis einer aufwendigen gemeinsamen Ermittlung der Staatsanwaltschaft und des hessischen Landeskriminalamts. Landesinnenminister Beuth sagte, ein Team um Sonderermittler Hanspeter Mener habe »zehn Monate lang nichts unversucht gelassen, um den mutmaßlichen Täter aus der Anonymität des Darknets zu reißen«. Laut dem Präsidenten des Bundeskriminalamtes, Holger Münch, wurde M. schließlich »am offenen Rechner« festgenommen.

Zu den Vorstrafen des Verdächtigen zählt nach SPIEGEL-Informationen auch eine Verurteilung wegen Amtsanmaßung, was interessant ist, weil im Fall »NSU 2.0« mehrere Zeugen – unter anderem Mitarbeiter der Zeitung »taz« – von verdächtigen Anrufen eines vermeintlichen Polizisten berichtet hatten, der an private Daten von Journalisten gelangen wollte.

Zudem verdächtigen die hessischen Ermittler Alexander M., telefonisch bei Behörden angefragt zu haben. Auch aus dem Darknet könnte sich M. illegal verbreitete Daten der Betroffenen beschafft haben, heißt es.

Wie geht es nun weiter?

Die bei der Wohnungsdurchsuchung sichergestellten Datenträger sollen nun ausgewertet werden. Die Behörden ermitteln unter anderem wegen des Verdachts der Volksverhetzung, des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, der Bedrohung und der Beleidigung.

Vieles ist an dem Fall nach wie vor unklar – etwa, wie viele der Drohmails Alexander M. womöglich zugerechnet werden können. Ende Juli vergangenen Jahres war bekannt geworden, dass es offenbar auch Trittbrettfahrer gibt. So sollen auch ein pensionierter Polizeibeamter aus Bayern und dessen Ehefrau Drohbotschaften mit dem Kürzel »NSU 2.0« versendet haben. Insgesamt werden 18 Schreiben solchen Trittbrettfahrern zugerechnet.

Aus Sicht des hessischen Innenministers entlasten die neuen Erkenntnisse die Polizei in seinem Bundesland. »Die Drohschreiben hatten einen sehr schwerwiegenden Verdacht auf die Polizei gelenkt«, sagte Beuth nun. »Nach allem, was wir heute wissen, war nie ein hessischer Polizist für die ›NSU 2.0‹-Drohmailserie verantwortlich.«

Die »jahrelangen widerlichen Drohungen und Einschüchterungen gegen Personen des öffentlichen Lebens« könnten nun in einem rechtsstaatlichen Verfahren geahndet werden, so Beuth. »Wenn sich der Verdacht bewahrheitet, können Dutzende unschuldige Opfer sowie die gesamte hessische Polizei aufatmen«.

Innenminister Beuth: Beamte entlastet

Innenminister Beuth: Beamte entlastet

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Arne Dedert/ dpa

Zugleich versicherte der CDU-Politiker, man werde aus dem Fall »weitere Lehren für unsere Sicherheitsbehörden ziehen. Die Ermittlungen werden mit der gleichen Beharrlichkeit und Akribie, die jetzt zum Erfolg geführt haben, fortgesetzt.«

Auch die hessische Justizministerin Eva Kühne-Hörmann begrüßte den Fahndungserfolg, die CDU-Politikerin sprach von einem »herausragenden Schritt bei der Aufklärung dieser Serie von feigen Taten«. Sie sagte weiter: »Wenn sich der dringende Tatverdacht bestätigt, ist dies eine großartige Nachricht für die Opfer, aber auch die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes.« Sie sei überzeugt: »Hass, Hetze und Drohungen werden nicht die Oberhand gewinnen.«

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version hieß es, der Verdächtige sitze in Untersuchungshaft. Tatsächlich wird er erst am Dienstagnachmittag einem Haftrichter vorgeführt. Wir haben die entsprechenden Stellen im Text angepasst.

mxw/jdl/srö/wow/dpa/AFP
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