Prozess um erfundenes NSU-Opfer "Dadurch wurde alles zerstört"

Zerstörung in der Keupstraße (2004): Mehr als 20 Menschen wurden verletzt
Foto: Federico Gambarini/ dpaDas erfundene Opfer des NSU-Anschlags in der Kölner Keupstraße hat ihre Freundschaft zerstört: Abdullah Ö. und Atilla Ö. kannten sich seit der Kindheit. "Wir sind im gleichen Viertel aufgewachsen. Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Er war mein Freund", sagt Abdullah Ö., 46, am Mittwoch vor dem Landgericht Aachen. Als im Juni 2004 die Nagelbombe des NSU in der Kölner Keupstraße explodierte, waren die beiden jungen Männer in dem Friseurladen, vor dem der Sprengsatz detonierte. Sie kamen verletzt ins Krankenhaus. Abdullah Ö. erlitt Schnitt- und Platzwunden am Kopf und an einem Arm und einen Tinnitus im linken Ohr, noch Jahre später raubte der Anschlag ihm den Schlaf. Insgesamt 23 Menschen wurden Opfer des Nagelbombenanschlags. Eine Meral Keskin war nicht darunter.
Der Eschweiler Anwalt Ralph Willms vertrat die nichtexistente Frau dennoch zweieinhalb Jahre lang im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht (OLG) München. Seit August muss er sich wegen Betrugs vor dem Landgericht Aachen verantworten. Er schweigt vor Gericht. Im Ermittlungsverfahren stellte er sich als Opfer dar. Atilla Ö. soll ihm die Existenz von Meral Keskin vorgegaukelt haben. Atilla Ö. hingegen sagte, der Anwalt habe immer gewusst, dass es Meral Keskin nicht gibt.
Atilla Ö. selbst kann vor Gericht nicht mehr aussagen, er ist im Herbst 2017 gestorben. Die Vorsitzende Richterin Melanie Theiner fragt an diesem Tag daher seinen Freund. Wann hat Abdullah Ö. den Namen Meral Keskin das erste Mal gehört? Der Zeuge sagt, er sei kurz vor der Aufdeckung des Skandals im Oktober 2015 gefragt worden, ob er sie kenne. Die NSU-Opfer aus der Keupstraße hatten sich zu einer Initiative zusammengeschlossen. Mitglieder dieser Initiative hätten ihn nach Meral Keskin gefragt. "Ich kenne diese Person nicht", habe er schon damals gesagt. Kurz darauf habe ein Anwalt anderer NSU-Opfer, Mustafa Klaplan, nach Meral Keskin gefragt. Auch ihm habe er gesagt, dass er die Frau nicht kenne, so Abdullah Ö.
"Die Freundschaft erst mal beendet"
"Haben Sie mit Atilla Ö. mal über die Person gesprochen?", fragt die Richterin. "Ich habe ihn mal gefragt, wer Meral Keskin ist. Er hat gesagt, sie wohnt in der gleichen Straße wie er. Er hat gesagt, er kennt sie. Ich habe ihn gefragt, warum ich sie nicht kenne. Sie ist Rentnerin und wieder in der Türkei, hat er gesagt." Vielleicht zwei Wochen später habe Abdullah Ö. dann aus den Medien erfahren, dass es Meral Keskin gar nicht gibt. "Da habe ich die Freundschaft erst mal beendet", sagt er. "Dadurch wurde alles zerstört."
Er habe den Kontakt abgebrochen, sagt Abdullah Ö. "Ich hätte ihm am liebsten ins Gesicht gespuckt, weil ich so enttäuscht war von ihm." Atilla Ö. habe versucht, die Freundschaft zu retten, habe zum Geburtstag geschrieben und gesagt, dass er ihn vermisse. "Was passiert ist, kann ich dir nicht verzeihen", habe er geantwortet, so Abdullah Ö. Der Skandal um Meral Keskin habe alle Opfer des NSU in Misskredit gebracht.
"Was hat Sie so enttäuscht?", fragt die Richterin. "Dass er verwickelt war in diese Sache." "Was glauben Sie denn, was der Herr Ö. gemacht hat?" "Weiß ich nicht. Nur, dass er dabei war. Das war für mich halt eine Enttäuschung."
Die Richterin fragt auch nach Atilla Ö.s Mutter, die kurzzeitig ebenfalls Nebenklägerin im NSU-Prozess war. Der Prozess in Aachen fördert immer mehr Indizien zutage, dass auch sie möglicherweise niemals Opfer des NSU geworden ist. Auch sie lebt nicht mehr.
Dass die Mutter seines Freundes ebenfalls Opfer des Anschlags in der Keupstraße geworden sein soll, habe er zu seiner Überraschung erst unmittelbar vor Beginn des NSU-Prozesses von Atilla Ö. erfahren, sieben Jahre nach der Bombenexplosion, sagt Abullah Ö. "Ich habe ihm das, ganz ehrlich gesagt, nicht geglaubt, dass seine Mutter damals in der Keupstraße war. Aber ich konnte das ja nicht beweisen, dass sie nicht da war."
Als der Sprengsatz detonierte, soll die Mutter in einem Restaurant neben dem Friseurladen gewesen sein - zusammen mit ihrer Freundin Meral Keskin. So hatte es der Anwalt der Mutter damals in seinem Antrag auf Zulassung zur Nebenklage dem OLG München geschrieben. "Würden Sie Atilla Ö. zutrauen, dass er sich Meral Keskin ausgedacht hat, damit seine Mutter für ihre Anwesenheit im Restaurant eine Zeugin hat?", fragt Richterin Theiner. Abdullah Ö. schweigt einen Moment, dann seufzt er. "Ich weiß es nicht."