Falscher NSU-Nebenkläger Der Anwalt und das Phantom

Rund 200.000 Euro hat ein Anwalt kassiert, weil er angeblich ein Opfer des NSU vor Gericht vertrat, das gar nicht existiert. Die Staatsanwaltschaft Aachen fordert trotzdem nur eine relativ milde Strafe.
Von Wiebke Ramm, Aachen
Der Angeklagte vor Gericht (Archivbild)

Der Angeklagte vor Gericht (Archivbild)

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Henning Kaiser/ dpa

Es ist ein beispielloser Fall. Das macht der Oberstaatsanwalt gleich zu Beginn seines Plädoyers deutlich. Auf der Anklagebank des Landgerichts Aachen sitzt Rechtsanwalt Ralph Willms. Im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht (OLG) München – »einem der größten und wichtigsten Prozesse der Bundesrepublik« – hat der Anwalt zweieinhalb Jahre lang und mehr als 230 Verhandlungstage ein erfundenes Opfer der Rechtsterroristen Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt vertreten.

Eine Frau namens Meral Keskin soll Opfer des Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße im Juni 2004 geworden sein. Doch Willms Mandantin gab es nie. Meral Keskin ist ein Phantom. DER SPIEGEL deckte den Skandal im Oktober 2015 auf. »Das hatte durchaus Sensationscharakter«, sagt Oberstaatsanwalt Burchard Witte am Donnerstag. Er kenne keinen vergleichbaren Fall. Er sagt auch: »Der Angeklagte hat dem Ansehen der Anwaltschaft in der Bundesrepublik Deutschland erheblich geschadet.«

Mit gesenktem Kopf

Ralph Willms wirkt, als wolle er sich auf der Anklagebank am liebsten unsichtbar machen. Der 53-jährige Anwalt aus Eschweiler folgt den Ausführungen in gebeugter Haltung. Er hält den Kopf gesenkt, trägt eine Maske und hält sich zusätzlich noch eine Hand vor sein Gesicht.

Die Staatsanwaltschaft fordert, Anwalt Willms unter anderem wegen gemeinschaftlichen Betrugs in einem besonders schweren Fall zu verurteilen. Wegen Betrugs und Urkundenfälschung im NSU-Prozess und versuchten Betrugs auch im Loveparade-Prozess beantragt Witte für Anwalt Willms eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren, ausgesetzt zur Bewährung. Zudem soll es Willms für zwei Jahre verboten werden, als Anwalt im Bereich Strafrecht zu arbeiten. 

Die vergleichsweise milde Strafforderung begründet die Staatsanwaltschaft mit fehlenden Vorstrafen, vor allem aber mit der überlangen Verfahrensdauer. »Es hätte noch eine ganz andere Höhe sein können«, wenn der Prozess nicht erst fünf Jahre nach Auffliegen des Schwindels erfolgt wäre. Auch die psychische Belastung sei strafmildernd zu berücksichtigen. Der Angeklagte hat sich nach Bekanntwerden des Skandals in ärztliche Behandlung begeben. Es soll ihm gesundheitlich, aber auch wirtschaftlich nicht gut gehen.

Mit erheblicher krimineller Energie

Für den Oberstaatsanwalt ist der Fall eindeutig. Willms habe mit erheblicher krimineller Energie gehandelt. Er habe nicht nur einmal die Existenz seiner angeblichen Mandantin vorgegaukelt. Er habe das OLG München vielmehr mehr als zwei Jahren lang belogen und getäuscht. Willms habe dem Senat immer neue Ausreden präsentiert, warum Meral Keskin nie als Zeugin im NSU-Prozess erschienen ist. Mal hatte sie einen Zusammenbruch in der Türkei, mal hatte sie einen Herzinfarkt, mal war ihre Enkelin bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen.

Willms soll nicht allein gehandelt haben, sondern zusammen mit einem tatsächlichen Opfer des Bombenanschlags, Atilla Ö. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Atilla Ö. sich Meral Keskin ausgedacht hat. Er habe die angebliche Bekannte seiner Mutter zunächst einem anderen Anwalt als Nebenklägerin für den NSU-Prozess angeboten. Dieser Anwalt habe dann seinen Kollegen Willms empfohlen. Noch am selben oder gleich am nächsten Tag habe sich Willms mit Atilla Ö. in Köln getroffen. Die beiden seien sich einig geworden, mit einem gefälschten Attest und falschen Angaben die Zulassung der nicht existenten Meral Keskin als Nebenklägerin im NSU-Prozess zu beantragen.

Atilla Ö. ist mittlerweile gestorben. Er kann sich gegen die Vorwürfe nicht mehr verteidigen. Willms hingegen stellt sich als Betrogener, nicht als Betrüger dar. Atilla Ö. habe ihm die Existenz von Meral Keskin vorgegaukelt. Oberstaatsanwalt Witte glaubt ihm nicht. Nach seiner Überzeugung hat Willms »mit voller Kenntnis der Nichtexistenz von Meral Keskin« sowohl die Zulassung der Nebenklage und seine Beiordnung als Anwalt als auch eine Entschädigung aus dem NSU-Opferfonds beantragt.

Willms habe enormen Schaden verursacht. Genau 211.252,54 Euro habe Willms erhalten. Zum einen Vorschüsse auf Gebühren und Reisekosten, zum anderen die Entschädigung der Bundesregierung in Höhe von 5000 Euro für die Opfer des NSU. »Kein Zweifel«, sagt Witte, Willms habe in Bereicherungsabsicht gehandelt. Und auch Atilla Ö. habe von dem Mandat profitieren wollen. Belegt ist, dass Willms Atilla Ö. 1000 Euro überwiesen hat. Dass noch mehr Geld geflossen ist, sei möglich, aber unklar.

Wiederholt falsche Unterlagen eingereicht

Nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft hat Willms genau gewusst, was er tat. Demnach hat der Anwalt wiederholt falsche Unterlagen eingereicht und falsche Sachverhalte vorgetragen.

Erst im Sommer 2020 ließ die Kammer des Landgerichts Aachen Willms Wohnung und Kanzlei durchsuchen. Dort fand sich das ominöse Attest, auf dem die angeblichen Verletzungen Meral Keskins vermerkt sind. Willms hatte das gefälschte Attest beim OLG München vorgelegt, um Meral Keskins Opfereigenschaft zu belegen. Das echte Attest war auf Atilla Ö. ausgestellt, es dokumentiert seine tatsächlichen Verletzungen, enthält seinen Namen, sein Geburtstag, seine Versicherungsnummer und Krankenkasse. Die bei Willms gefundene Kopie dieses Attests ist unvollständig, der obere Teil mit Atilla Ö.s Daten ist abgerissen. Auf der angerissenen Kopie hat jemand mit blauem Kugelschreiber den Namen Meral Keskin geschrieben. Das Ganze wurde noch einmal kopiert. Diese nun wieder vollständige DIN-A4-Seite mit dem Namen Keskin schickte Willms an das OLG.

Der Oberstaatsanwalt trägt eine dokumentierte Merkwürdigkeit nach der anderen vor. Mal soll Willms Mandantin in der Keupstraße vor einem Restaurant geraucht haben, als die Bombe explodierte. Mal soll sie im Restaurant an der Theke gestanden, mal in dem Friseurladen gewesen sein, vor dem der Sprengsatz damals detonierte. Schon ein sporadischer Blick in die Ermittlungsakten zum Keupstraßen-Anschlag hätte genügt, um festzustellen, dass nirgendwo eine Meral Keskin als Opfer auftaucht. Willms aber will es nie bemerkt haben.

Für Witte ist klar: Willms wusste, dass es Meral Keskin nicht gibt, und er hat mit Vorsatz gehandelt. Die zahlreichen offensichtlichen Widersprüche könne er nicht übersehen haben. Von Fahrlässigkeit könne daher keine Rede sein. Sollte das Gericht dennoch meinen, Willms habe nicht gewusst, dass es Keskin nicht gibt, bliebe noch der sogenannte bedingte Vorsatz. Demnach habe Willms zumindest billigend in Kauf genommen, dass Meral Keskin niemals Opfer des Anschlags geworden ist. Auch bedingter Vorsatz reicht für eine Verurteilung wegen Betrugs.

Dass Willms »in einem der größten und wichtigsten Strafprozesse der Bundesrepublik sich nie veranlasst gesehen haben will, die Existenz seiner Mandantin abzuklären«, nimmt Witte ihm nicht ab. Der Oberstaatsanwalt ist überzeugt: Willms angebliche Ahnungslosigkeit hat es nie gegeben.

Am 26. November wird der Prozess mit dem Plädoyer der Verteidigung fortgesetzt.

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