Auftakt zum NSU-Prozess Zeit für Gerechtigkeit

Angeklagt im NSU-Prozess: Beate Zschäpe
Foto: Getty Images/ BKADie Erwartungen sind riesig, jetzt, da der NSU-Prozess endlich beginnen soll - und muss. In den Schlagzeilen ging es bisher um Fragen wie: Wieviel Öffentlichkeit braucht ein Strafprozess und vor allem, welche? Oder: Ist ein Vorsitzender Richter, der noch nicht einmal die Sitzplatzvergabe hinbekommt und in einem viel zu kleinen Gerichtssaal verhandelt, wirklich der richtige Mann für einen Prozess, der, wie es scheint, alle Dimensionen sprengt und ein Höchstmaß an Fingerspitzengefühl und Gelassenheit verlangt? Die Hauptsache geriet darüber zeitweise fast aus dem Blick.
Nun aber treffen erstmals die Angehörigen der Ermordeten und die Verletzten mit jenen Personen zusammen, die möglicherweise als Mittäter oder Helfer über Jahre unentdeckt an Verbrechen aus mörderischem Rassenhass beteiligt waren: Beate Zschäpe, 38, Ralf Wohlleben, 38, André E., 33, Holger G., 39, und Carsten S., 33. Diese fünf Angeklagten stehen von Montag an, 10 Uhr, vor dem 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts München.
Was sie dort erwartet, wissen sie vermutlich; ihre Anwälte werden es ihnen gesagt haben. Erst einmal ein Antragsgewitter. Vermutlich, weil der Vorsitzende angeblich befangen sei, weil der Prozess einzustellen sei, weil er in einen weiteren Saal übertragen werden sollte und so fort. Wenn die drei Vertreter der Bundesanwaltschaft, elf Verteidiger und alle 53 Nebenklage-Anwälte jeweils dazu Stellung nehmen, ist die erste Prozesswoche vorbei.
Hoffen auf "die ganze Schärfe des Gesetzes"
Die Hinterbliebenen als Nebenkläger sind unsicher. Sie stehen, zusammen mit ihren Anwälten, inzwischen mehr als die Angeklagten und deren mutmaßliche Schuld im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Einige wollen einen kurzen Prozess, um endlich abschließen zu können mit der Frage nach dem Warum. Andere hoffen auf die Höchststrafe für die Angeklagten, an der wiederum andere nur marginal interessiert sind. Dass ihre Fragen beantwortet werden, wünschen sich die meisten der Opfer.
Auch die Anwälte sind sich nicht einig. Am Sonntag, als einige Nebenklagevertreter in München auf die Anliegen ihrer Mandanten aufmerksam machten, zeigten sich deutliche Unterschiede in der rechtlichen Bewertung, ob man etwa die Verhandlung in einen weiteren Saal übertragen könnte oder ob damit schon der erste Grund zu einer Aufhebung des späteren Urteils geschaffen würde. Auch Kritik am Bundesverfassungsgericht wurde laut, das sich nicht zum Thema einer Video-Übertragung habe äußern wollen: "Es wäre eine gesetzliche Klarstellung in kürzester Zeit möglich gewesen. Dann hätten wir diese ganze Diskussion um zu wenige Plätze nicht gehabt", sagte die kämpferische Rechtsanwältin Angelika Lex aus München, die die Angehörigen des ermordeten Griechen Theodoros Boulgaridis vertritt.
Weitere Fragen der Nebenkläger: Warum befindet sich Carsten S., obwohl der Beihilfe an neun Morden angeklagt, auf freiem Fuß? Nebenklagevertreter Reinhard Schön: "Ich hoffe, dass das Gericht jetzt mit der ganzen Schärfe des Gesetzes an die Sache herangeht." Ihm, Schön, sei nicht nachvollziehbar, dass der Bundesgerichtshof (BGH) die Haftbefehle gegen drei der Angeklagten aufgehoben habe. "Ich habe hier ein Problem. Nämlich das Gefühl, dass auch einzelne Richter am BGH auf dem rechten Augen blind sind."
Für das Staatsversagen hat sich niemand entschuldigt
Alle Opfer, so hieß es, hätten Angst von rechter Gewalt. Die meisten wollten genau wissen, wer ihr Leben zerstört oder es mit einer noch längst nicht bewältigten Last beschwert hat. Sie forderten "maximale" Aufklärung: "Es geht nicht nur um die Tatschuld der Angeklagten", erklärte Rechtsanwalt Sebastian Scharmer. "Wir wollen wissen: Wie konnte der 'Nationalsozialistische Untergrund' (NSU) überhaupt entstehen? Wer hat ihn unterstützt? Wer hat die Tatopfer ausgewählt?"
Die Familien der Ermordeten und die Verletzten wollten überdies endlich als Opfer schwerster Straftaten wahrgenommen werden, nachdem sie jahrelang "entwürdigenden rassistischen und dilettantischen Ermittlungen" ausgesetzt gewesen seien. Sowohl in ihrem privaten Umfeld als auch öffentlich seien diese Menschen "diskreditiert und kriminalisiert" worden, fügte Rechtsanwältin Lex hinzu.
Als Zeugenaussagen, Indizien und Profilerberichte nahelegten, dass es sich wohl um eine rechtsterroristische Anschlagsserie handelte, sei das von den Ermittlern ausgeblendet worden. "Entschuldigt hat sich bis heute niemand bei unseren Mandanten", sagte die Anwältin. Niemand habe dafür Verantwortung übernommen, kein Bundesinnenminister, kein Landesinnenminister, kein Polizeipräsident, kein sonstiger Behördenleiter. Das habe zu einem "erheblichen Verlust an Vertrauen in den Rechtsstaat" geführt.
Selbst auf die Gefahr hin, damit den Angeklagten in die Hände zu spielen: Die Familien der Getöteten und die Verletzten treibe nach Aussage ihrer Anwälte die Frage um: Hätten ein Großteil oder gar alle Taten verhindert werden können, wenn die Ermittler und Nachrichtendienste bereits zu Beginn der NSU-Aktivitäten angemessen gehandelt hätten? Wenn sie die Gefahr rechtsextremer Gruppierungen ernst genommen und diese entsprechend verfolgt hätten?
Opferfamilien verlangen Antworten
Die Vorstellung, der NSU habe aus nur drei besonders gefährlichen Personen bestanden, wie es in der Anklage des Generalbundesanwalts heiße, sei nur schwer nachzuvollziehen. Gegen eine Vielzahl weiterer Personen, die dem Unterstützernetzwerk zugerechnet würden, werde schließlich weiter ermittelt. Es gebe Hinweise, dass der NSU an den Tatorten jeweils Helfer gehabt habe. "Gab es Zahlungen an V-Männer, die wiederum zur Finanzierung des NSU genutzt worden sind?", fragen die Anwälte der Nebenkläger.
"Widersprechen müssen wir auch teilweise geäußerten Ansichten, dass eine Aufklärung des Versagens der Ermittlungsbehörden und weiterer möglicher Unterstützungshandlungen des Netzwerkes um den NSU nicht Aufgabe des Gerichts sei", so die Anwälte.
Natürlich müsse das Oberlandesgericht den Prozessstoff handhabbar gestalten. Es könne aber die Rolle der Angeklagten nicht beleuchten, ohne zu ermitteln, wer, was, von wem, wann wusste und durch welche Mittel der NSU zumindest mitfinanziert worden sei. Rechtsanwalt Scharmer sagte, die Nebenkläger wollten "mehr herausfinden, als in der Anklage steht, selbst wenn das zu einem Konflikt mit dem Senat führt".